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Die unterschätzte Krankheit: ADHS bringt das Leben von Erwachsenen durcheinander

ADHS gilt heute als häufigste Ursache von Verhaltensstörungen. (Bild: Thinkstock)
ADHS gilt heute als häufigste Ursache von Verhaltensstörungen. (Bild: Thinkstock)

ADHS gilt als die Krankheit der Chaoten und Genies, der Zappelphilippe und Getriebenen. Und vor allem als Kinderkrankheit. Doch die Störung macht immer mehr Erwachsenen ein normales Leben beinahe unmöglich. Yahoo! klärt auf über Symptome und Behandlungsmöglichkeiten und das Phänomen ADHS bei Erwachsenen.

Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) galt lange als Krankheit der Kinder und Jugendlichen, die irgendwann wieder verschwindet. Diese Vermutung ist längst widerlegt. „Fünf bis sieben Prozent der Kinder haben ADHS. 60 Prozent von ihnen plagt ADHS auch im Erwachsenenalter“, sagt Astrid Neuy-Bartmann vom ADHS-Zentrum München. Die Symptome lassen dabei nicht nach. Sie verändern sich und sind weniger offensichtlich als bei Kindern. „Die Erwachsenen lernen, die Zappeligkeit besser zu konzentrieren“, erklärt die Expertin. „Sie sind dafür innerlich unruhig und können nicht entspannen und sich konzentrieren.“ Abbrüche und Unregelmäßigkeiten zieren viele Lebensläufe der Erkrankten. Es gibt Ärger in der Ausbildung, häufige Job-Wechsel, Streit mit der Familie. „Die Patienten haben ein Problem mit der Selbstdisziplin, können nur schwer etwas durchhalten“, so Neuy-Bartmann. Das impulsive Verhalten macht eine Arbeit im Team oft unmöglich, die Erkrankten bleiben beruflich unter ihren Möglichkeiten. Um die Diagnose zu erleichtern, soll künftig der Katalog für psychische Störungen DSM an die Leiden der erwachsenen Patienten angepasst werden. Dann sollen vier anstatt bisher sechs Symptome für die Diagnose einer ADHS ausreichen.

Ein Großteil der Ärzte erkennt die Symptome erst gar nicht

Die meisten der Erwachsenen wissen gar nicht, dass sie ADHS haben. „Wenn wir die Menschen aufklären, sind sie dankbar. Sie verstehen dann, was in ihrem Leben passiert ist und können an den Problemen arbeiten“, sagt Neuy-Bartmann. Die Patienten verstehen das Chaotische, das Impulsive, die Selbstzweifel, Misserfolge und Antriebsstörungen. Wer als Erwachsener erkrankt ist, muss die Störung bereits im Kindesalter gehabt haben. „Drei Viertel unserer Patienten stellen sich erstmals im Erwachsenenalter vor“, sagt Bernhard Kis. Der leitende Oberarzt des LVR-Klinikums Essen der Uniklinik Duisburg-Essen leitet die ADHS-Sprechstunde in Essen. Oft kämen die Patienten wegen Begleiterscheinungen in die Klinik, beispielsweise wegen Problemen in der Familie und im Beruf oder wegen Depressionen. Frauen leiden übrigens deutlich seltener an der Störung als Männer.

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Erst kürzlich hat die Krankenkasse Barmer GEK vor einer „Generation ADHS“ gewarnt. Zwischen 2006 und 2011 sei die Zahl der ADHS–Fälle bei den unter 19-Jährigen um 42 Prozent gestiegen. Und die Dunkelziffer könnte hoch sein. „Noch immer kennt ein Großteil der deutschen Psychiater das Krankheitsbild nicht. Erkannt werden nur Begleiterscheinungen. Da vergibt man Behandlungsmöglichkeiten“, warnt Neuy-Bartmann. Bei der Behandlung gibt es lebenswichtige Unterschiede. Während Schlafentzug bei Depressionen oft heilsam wirkt, kann er bei ADHS verheerende Folgen haben. „Es gibt eine große Unterversorgung“, kritisiert Kis das Wissen der niedergelassenen Psychiater. Und deshalb gibt es einen Behandlungsstau. Wer in seiner Ambulanz behandelt werden möchte, muss für die Aufnahme zu den vier erforderlichen Untersuchungen bis zur Diagnose bis zu einem Dreivierteljahr warten.

Behandelt wird die Störung mit Psychotherapie, Ergotherapie und Medikamenten wie Methylphenidat, bekannt unter dem Markennamen Ritalin. Dieser Wirkstoff ist seit dem vergangenen Jahr auch für Erwachsene zugelassen.Die Behandlung mit Methylphenidat darf nur ein Spezialist für Verhaltensstörungen durchführen. Und der Erfolg? „Man kann ADHS nicht wegtherapieren, es ist ein chronisches Störungsbild“, erklärt Kis. Wenn die Begleiterscheinungen aufhören, kommen viele Patienten besser im Alltag klar. Zudem lernen sie, mit der Störung umzugehen. „Der Patient entwickelt Kompensationsmöglichkeiten“, so Kis.

Ein stabiles soziales Umfeld hilft den Betroffenen beim Umgang mit der Störung

Sowieso: alle Patienten müsse man gar nicht behandeln, findet Neuy-Bartmann. „Wer mit ADHS wunderbar zu Recht kommt, den sollte man einfach in Ruhe lassen.“ Dabei helfen der richtige Partner oder ein Beruf, in dem man aufgeht. Moderatoren und Reporter, Politiker und Schauspieler, Sänger und Künstler kann die Störung zu Höchstleistungen anstacheln. So sollen Mozart und Einstein ADHS gehabt haben, Tom Cruise und Leonardo da Vinci ebenso. Erst vor kurzem bekannte sich der Berliner Piratenpolitiker Christopher Lauer dazu und auch Starkoch Jamie Oliver spricht darüber. Allerdings können Erkrankte auch leichter in die Kriminalität abrutschen oder drogenabhängig werden, weil sie die Störung mit Nikotin, Cannabis und Amphetaminen bekämpfen. Eine verstärkte Suizidgefährdung bei ADHS-Patienten gebe es aber nicht, gibt der Experte Kis Entwarnung.

Woher die Störung kommt, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. „Es gibt viele verschiedene Ursachen“, so Kis. Zu einem Großteil seien bei Patienten mit einer ADHS genetische Veränderungen bekannt. Aber auch das Rauchen in der Schwangerschaft sowie ein Aufwachsen mit Eltern, die ebenso ADHS tragen, könne das Risiko für die Störung erhöhen. Weltweit forschen die Wissenschaftler weiter, um die Krankheit besser zu verstehen. Und um den Patienten ein angenehmeres Leben zu ermöglichen.