Neues Psychiatrie-Regelwerk: Geisteskrank über Nacht

Verrückt? Die Neuausgabe der sogenannten Bibel der Psychiatrie macht Gesunde zu Kranken. (Bild: ddp images)
Verrückt? Die Neuausgabe der sogenannten Bibel der Psychiatrie macht Gesunde zu Kranken. (Bild: ddp images)

Millionen gesunde Menschen sind über Nacht plötzlich geisteskrank geworden. Schuld ist die gerade erschienene Neuauflage des DSM-5, die sogenannte Bibel der Psychiatrie. Der Diagnosekatalog bestimmt seit Jahrzehnten, was als psychisches Leiden gilt. Mediziner streiten jedoch um die Neufassung: Was ist noch ein normales Problem, was bereits eine Störung? Yahoo! erklärt, wie Sie erkennen, ob auch Sie beim nächsten Arztbesuch unverhofft als krank eingestuft werden und warum deutsche Experten vor einer Diagnose-Epidemie warnen.

Bereits seit 1952 versucht die American Psychiatric Association (APA) in dem Regelwerk DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) festzulegen, welche Symptome zu psychischen Krankheiten gehören. Nun hat sie die fünfte Ausgabe veröffentlicht, zugleich die erste seit 1999.

In Deutschland orientieren sich die Ärzte zwar an den von der Weltgesundheitsorganisation WHO aufgestellten ICD-10-Regeln. Doch die werden stark vom DSM beeinflusst. Weil die WHO-Regeln im kommenden Jahr ebenfalls erneuert werden, gucken sich auch deutsche Mediziner gespannt den neuen amerikanischen Leitfaden an. Und der ruft teilweise massive Kritik hervor.

Wer länger trauert, gilt schneller als depressiv

Wer nach einem Todesfall künftig länger als zwei Wochen trauert, darf vom Arzt eine Depression diagnostiziert bekommen. Bisher galt erst als depressiv, wer länger als zwei Monate schlecht schlief, keinen Appetit hatte und schlecht gelaunt war. „Wer intensiv trauert, erfüllt zwar häufig formal die Kriterien einer Depression, ist aber nicht krank“, kritisiert der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), Rainer Richter.

„Der Schmerz von Trauernden kann durchaus Monate oder über ein Jahr dauern und sollte nicht als behandlungsbedürftig gelten.“ Die meisten Trauernden würden den Verlust einer geliebten Person ohne Behandlung verkraften. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) befürchtet, dass die psychische Störung dann nicht nur in Ausnahmefällen, sondern bei einer zunehmenden Anzahl trauernder Menschen diagnostiziert würde.

ADHS oder einfach typische Schulprobleme?

Durch die Neuauflage des Regelwerks DSM-5 dürfte auch die Anzahl der Kinder rapide steigen, die an ADHS leiden sollen. Bisher mussten Symptome wie andauernde Unruhe und fehlende Konzentrationsfähigkeit vor dem siebten Lebensjahr auftreten, um die Störung festzustellen. Nach dem neuen Regelwerk müssen die Anzeichen erst bis zum zwölften Lebensjahr auftauchen.

Das Problem: In dieser Zeit erleben die meisten Kinder einen Umbruch, haben mit schulischen und alltäglichen Problemen zu kämpfen. Viele dieser Herausforderungen wären auch ohne Medikamente zu bewältigen. „Angesichts dieser Häufigkeiten ist auch in Deutschland von einer deutlichen Überdiagnostik und pharmakologischen Übertherapie bei ADHS auszugehen“, warnt BPtK-Chef Richter.

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Bereits heute erhält knapp jeder fünfte Junge zwischen dem siebten und zwölften Lebensjahr eine ADHS-Diagnose, jeder zehnte Junge bekommt als Kind oder Teenager einmal Ritalin verschrieben. Die Bundespsychotherapeutenkammer hofft, dass die WHO bei der Novellierung ihres Katalogs nicht den US-Psychiatern folgt. Immerhin: Die amerikanischen Ärzte betonten auch, dass ADHS bis ins Erwachsenenalter andauern kann.

Wutausbrüche sind offiziell eine Krankheit

Die Kritiker befürchten eine weitere Zunahme vermeintlich kranker Kinder. Die amerikanischen Mediziner haben mit Disruptive Mood Dysregulation Disorder (DMDD) ein völlig neues Leiden geschaffen. Betroffene Kinder leiden angeblich an starken Wutausbrüchen. Die Forschung zu solchen Wutausbrüchen sei allerdings zu dürftig, um eine neue diagnostische Kategorie zu begründen, kritisiert BPtK-Präsident Richter.

„Dabei ist das Risiko sehr groß, heftige emotionale Reaktionen von Kindern und Jugendlichen in Reifungskrisen als krank abzustempeln. Insbesondere drohen andere Gründe für wiederholte Temperamentsausbrüche wie ungelöste Konflikte mit Eltern, Lehrern oder Gleichaltrigen aus dem Blick zu geraten.“

Krank: Heißhungerattacken, Kratzen und Regelbeschwerden

Der Kriterienkatalog legt noch weitere Neuerungen fest. Wer ständig die Haut kratzt, leidet fortan an der Skin-Picking-Störung. Als Krankheit gelten nun auch starke Regelbeschwerden bei Frauen, die vor der Regelblutung auftreten. Wer drei Mal pro Woche die Kontrolle darüber verliert, wie viel er isst, könnte die Binge-Eating-Störung diagnostiziert bekommen. Bisher musste man dafür einmal pro Woche über drei Monate lang Heißhungerattacken bekommen, ohne danach zu erbrechen.

Die BPtK kritisiert die neue Regel als willkürlich. Die Entwicklungsstörung Asperger-Syndrom gehört künftig zur Autismusspektrumsstörung. Vermehrte Gedächtnislücken und Denkprobleme im Alter heißen nun „minore neurokognitive Störung“. Bei Suchtkrankheiten soll es laut APA keinen Unterschied mehr zwischen Abhängigkeit und Missbrauch geben.

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Doch DSM-5 beinhaltet auch Neuerungen, die von Kritikern begrüßt werden. Wer an Spielsucht oder dem Messie-Syndrom leidet, ist ab sofort offiziell krank.
Die deutschen Mediziner warten nun mit Spannung darauf, welche der Neuerungen die WHO bei der Überarbeitung ihres Regelwerks berücksichtigt. Erst dann wissen die Deutschen, ob sie beim nächsten Arztbesuch plötzlich als geisteskrank erklärt werden, obwohl sie zuvor kerngesund waren.