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Das ist der wahre Missbrauch von Asyl

Horst Seehofer kritisiert Gaucks Vergleich von Flüchtlingen mit den Vertriebenen vor 70 Jahren. Foto: Sven Hoppe/dpa
Horst Seehofer kritisiert Gaucks Vergleich von Flüchtlingen mit den Vertriebenen vor 70 Jahren. Foto: Sven Hoppe/dpa

Horst Seehofer spricht von „massenhaftem Asylmissbrauch“ und kritisiert damit Bundespräsident Gauck. Unrecht haben beide.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Alle drei, vier Monate durchfährt Horst Seehofer ein Ruck. Verdammt, denkt Bayerns Ministerpräsident dann, ich muss mal wieder was für meine rechte Flanke tun. In solch sicheren Abständen also bellt er los, unlängst gegen den Bundespräsidenten. Was war passiert?

Joachim Gauck hatte zum Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung gesagt, als Lehre aus der Vertreibung von Millionen Deutschen vor 70 Jahren müsse hierzulande mehr Hilfe geleistet werden. Irgendwie dachte Seehofer, das möge eine passende Steilvorlage sein, zumindest ein ordentlicher Querpass. Flugs diktierte er dem „Münchner Merkur: „Ich weiß aus vielen Gesprächen mit Heimatvertriebenen, dass sie solche Vergleiche nicht gerne hören.“ Die Fluchtursachen seien jetzt andere. „Jetzt geht es auch um massenhaften Asylmissbrauch. Ich finde diese Diskussion nicht angezeigt.“

Hoppla. Wen hatte Seehofer denn gefragt? Meine Mutter jedenfalls nicht, sie und ihre gesamte Familie wurden auch vertrieben, aus Ostpreußen. In den „Bund der Vertriebenen“ könnte auch ich eintreten. Mein erster Impuls: Die Verzweiflung meiner Familie und das so große Leid – darin können sich syrische Bürgerkriegsflüchtlinge oder bitterer Armut entkommende Afrikaner durchaus wiedererkennen, gut möglich, dass sie noch viel mehr gesehen haben; dabei durchlitt meine Familie das Komplettprogramm einer scheußlichen Flucht. Was redet der also da?

Ein Wort wird missbraucht

Ein Faktencheck entlarvt Seehofers Worte als Schnickschnack. 173.072 Asylerstanträge gab es 2014 in Deutschland – bei knapp 60 Millionen Flüchtlinge und Binnenvertriebenen weltweit. Zählt man die Entscheidungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und erfolgreiche Klagen vor Gericht zusammen, erhalten mehr als 50 Prozent aller Asylantragsteller in Deutschland den erfragten Schutz. Sieht so massenhafter Missbrauch aus? Zumal 35 Prozent aller Anträge in Deutschland gar nicht entschieden werden. Die Dublin-Verordnung sieht vor, dass Antragsteller auf Asyl, die vor Deutschland ein anderes EU-Land betreten haben, dort auf ihren Entscheid warten müssen. Eine ungerechte Regelung, mit deren Hilfe sich vor allem osteuropäische EU-Länder einen schlanken Fuß machen und die Solidarität mit jenen EU-Ländern verweigern, die wegen ihrer Nähe zum Fluchtweg Mittelmeer die meisten Flüchtlinge erstmal aufnehmen.

„Massenhafter Asylmissbrauch“ – wer dieses Wortungetüm googelt, der landet rasch auf Facebook-Seiten lokaler Komitees gegen Flüchtlingsheime, oft von der Hitlerfanpartei NPD betrieben. Nur weil Nazis diesen Begriff okkupieren, heißt das nicht, man sollte ihn nicht in den Mund nehmen. Aber den Tatsachen entspricht er eben nicht.

Nichts passt hier so richtig

Noch schrulliger wird es, wenn man sich den Ursprung der Gauck-Seehoferschen Kontroverse anschaut. Der frisch eingeführte Gedenktag, an dem der Bundespräsident sprach, fällt auf den Weltflüchtlingstag der UN. Warum eigentlich? Als Gauck über die deutschen Heimatvertriebenen sprach, redete er vom Kollektiv der Deutschen, das diesen Schicksalsschlag hinnahm und die Flüchtlinge aufnahm. Dass dies nicht so reibungslos ablief, davon könnte meine Familie ein Lied singen, aber sei’s drum. Jedenfalls bemerkte Gauck in seiner Rede nicht, dass diesem Schicksalsschlag andere vorausgingen, dass viele vor jenem Kollektiv geflohen und von ihm ermordet worden waren, dass ein fürchterlicher Weltkrieg vom Kollektiv angezettelt worden war. Die Kolumnistin Anetta Kahane hat in der „Berliner Zeitung“ dazu geschrieben: „Der stinkende Deal mit diesem doppelten Gedenktag geht so: Wir als deutsches Kollektiv sind für Flüchtlinge, wenn ihr uns das Opfertum lasst. Doch so kann die Wunde nie heilen.“ Stimmt.

Ein Gedanke übrigens, der nicht falscher durch die neueste Nachricht wird: Fünf Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats der Vertriebenenstiftung sind zurückgetreten. Die Stiftung steht vor der Mammutaufgabe, die seit Jahren geplante Dauerausstellung über die Vertreibungen im Europa des 20. Jahrhunderts zu erarbeiten. Besonders im deutsch-polnischen Verhältnis ist das nicht frei von Spannungen. Polen befürchtet, die Deutschen könnten sich auf Druck der Vertriebenenverbände von Tätern zu Opfern machen und die eigene Schuld während der Nazizeit relativieren. Die fünf Beiräte sind nun zurückgetreten, weil die Stiftung einen neuen Vorsitzenden hat. Sie wurden bei der Wahl übergangen, es gab kompetentere Kandidaten als Winfried Halder, der eben den richtigen Stallgeruch mitbrachte – für die Vertriebenenverbände, die viel Einfluss in den Gremien der Stiftung haben. Zuviel Einfluss für meinen Geschmack. Aber ich bin ja auch kein Mitglied.

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