Die Kurden sind die Verlierer der Weltgeschichte

Ein Volk hat viel zu leiden: die Kurden (Bild: dpa)
Ein Volk hat viel zu leiden: die Kurden (Bild: dpa)

Die Türkei schickt ihre Armee gegen die kurdischen Gegner der islamistischen Terrormiliz „IS“. Und der Westen schaut zu. So wie er es schon immer getan hat.

Eine Analyse von Jan Rübel

So schnell können Tränen trocknen. In diesem Frühling noch galten die kurdischen Rebellen in der syrischen Stadt Kobane bei uns als Helden. Mutig und mit veralteten Waffen stellten sie sich dem „Islamischen Staat“ entgegen und setzten schließlich seinen Milizen Grenzen. Die westliche Welt verneigte sich vor diesen Kurden, die bis heute die größten Opfer und Gegner des IS stellen.

All dies scheint heute vergessen. Die gleichen Kurden werden heute vom Nato-Mitgliedsland Türkei attackiert. Und wir schauen zu.

Als die türkische Regierung sich vor einigen Tagen endlich aufmachte, ihr zwiespältiges Verhalten gegenüber dem IS zu ändern, wandte sie sich einem weiteren Doppelspiel zu – es scheint eine Angewohnheit unter Politikern des Nahen Ostens zu sein: Jahrelang hatte Ankara die islamistischen Terroristen geduldet, den Grenzverkehr nicht unterbunden und erlaubt, dass die IS-Schergen in der Türkei einkaufen, verkaufen, sich behandeln lassen, Rekruten einsammeln, sprich: der IS ist in den Augen Ankaras ein Gegner der Kurden und des Assad-Regimes, und getreu dem alten Motto „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ hat die regierende AKP in der Türkei eine dehnbare Auffassung dessen gefunden, wer Freund und wer Feind sein könnte.

Und deshalb greift die Türkei nun den IS an, weil es dies nach dem verheerenden Anschlag in der vergangenen Woche einfach machen muss. Und gleichzeitig ergreift sie die Waffen gegen die kurdische PKK, mit der seit 2013 eigentlich erfolgreich eine Waffenruhe herrschte, und die von den Kurden eingehalten wurde. Die Gründe hierfür sind wiederum zweierlei.

Erdogan mit Zuckerbrot und Peitsche

Zum einen will die AKP unter Recep Tayyip Erdogan die kurdischen Wähler bestrafen, weil sie sie bei den letzten Parlamentswahlen abstraften und dann noch mit landesweiten 15 Prozent eine kurdische Partei in die Volksvertretung schickten. Erdogan hatte vor einigen Jahren den Friedensprozess mit den Kurden begonnen, und nun beendet er ihn wieder – denn die Kurden spielen nicht nach seinen Regeln und ordnen sich ihm und der AKP-Herrschaft nicht unter.

Und zum anderen ist Ankara jegliche Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebung ein Dorn im Auge. Dass die Kurden in Syrien mehr oder weniger unter der Kontrolle der PKK eine eigene Herrschaft aufbauen, wird von Ankara missbilligt. Nun schreitet Erdogan zur Tat.

Er kann das, weil die US-Außenpolitik mal wieder umschwenkt. Bis vor kurzem spielten die Kurden eine prominente Rolle in der Strategie Washingtons gegen den IS. Die bloße Erlaubnis der Türkei, dass US-Militärflugzeuge bei ihren Angriffen gegen IS-Stellungen nun Basen in der Türkei benutzen dürfen sowie die Einigung auf eine so genannte Sicherheitszone entlang der syrisch-türkischen Grenze werden bei US-Präsident Barack Obama einen Sinneswandel bewirkt und einen Kuhhandel beschlossen haben, den es früher öfters gab. Denn die Kurden waren schon immer die Verlierer der Weltgeschichte.

Mit 22 Millionen Einwohnern sind die Kurden das größte Volk der Welt ohne Staat. Ihre Anführer werden heute an 1975 denken. Denn vor genau 40 Jahren widerfuhr ihnen das gleiche Schicksal. Damals wurden sie gegen den Irak in Stellung gebracht.

US-Präsident Richard Nixon unterstützte damals die Kurden, 16 Millionen Dollar flossen via Teheran für Waffen an die Rebellen. Vorher waren sie von Washington zum offenen Krieg gedrängt worden. Kurdenführer Mullah Mustafa Barsani bot dem Weißen Haus gar an, Kurdistan zum 52. Bundesstaat der USA zu machen. Er wurde bitter enttäuscht. Die amerikanischen Versprechen der Unabhängigkeit lösten sich mit dem Abkommen von Algiers 1975 in Luft auf, als Iraks damaliger Vizepremierminister Saddam Hussein wichtige Zugeständnisse an den Schah von Persien machte, den wahren damaligen Alliierten Washingtons. Tags darauf fiel der Aufstand mangels Logistik zusammen. Hunderte Kurden starben, Tausende flohen.

Der so genannte Pike-Report eines Untersuchungsausschusses des US-Kongresses enthüllte später ein Memorandum der CIA, wonach die USA einen Sieg ihrer kurdischen "Klienten" gar nicht gewünscht hatten. Oder, wie es später der damalige Sicherheitsberater Henry Kissinger in seinen Memoiren umschrieb, der Irak sollte von "Abenteurertum" abgehalten werden. Die Kurden eigneten sich nur als Spielkarte im Great Game um regionale Macht.

Die Kurden: Immer auf sich allein gestellt

Und es gibt noch zahlreiche andere Beispiele, bei denen Kurden übergangen wurden. Bei ihren Bemühungen um Unabhängigkeit standen sie sich oft selbst im Weg; die Gesellschaft ist zersplittert in viele Stämme, deren Fehden eine mörderische Tradition haben. Gegen Fremdbestimmung ließen sich Kurden gerne mobilisieren, sich jedoch einem kurdischen Herrscher unterzuordnen, das ging den Scheichs und Agas zu weit.

So fiel es den Alliierten im Ersten Weltkrieg leicht, die Kurden zu übergehen: Großbritannien und Frankreich teilten in ihrem geheimen Sykes-Picot-Abkommen 1916 die kurdischen Regionen kurzerhand auf. Der größte Teil sollte dem zaristischen Russland zufallen. Nach der Oktoberrevolution und besonders nach spektakulären Ölfunden in Mosul wollten die Briten davon nichts mehr wissen. Im Friedensvertrag von Sèvres stellten die Alliierten 1920 den Kurden auf dem Gebiet der heutigen Türkei eine lokale Autonomie in Aussicht - aber in die Paragrafen 62 bis 64 schrieb sich London eine Hintertür hinein: Nur eine alliierte Kommission könne dies beschließen. Und die kam nie zu Stande. Der Friedensvertrag von Lausanne im Jahr 1923 erwähnte dann die Kurden mit keinem Wort.

So wie wir heute schweigen angesichts der türkischen Bomben.

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