Elfjähriger Junge stellt sich während Massaker in Houla tot und überlebt

Als die Kämpfer begannen, seine Familie zu töten, tauchte der elfjährige Ali el-Sayed seine Kleidung in das Blut seines Bruders und legte sich in seinem Haus auf den Boden. Er hoffte, die Killer würden dann glauben, er sei bereits tot. Ali überlebte so das Massaker von Houla.

Er versuchte, die Angst zu bekämpfen und ganz ruhig liegen zu bleiben. Die Kämpfer mit den langen Bärten und den rasierten Köpfen kannten kein Pardon: Sie massakrierten seine Eltern und seine vier Geschwister – einen nach dem anderen.

Der Jüngste unter ihnen war der sechsjährige Nader. Seine Leiche wurde mit zwei Einschusslöchern gefunden:  einem im Kopf, einem in seinem Rücken.

„Ich habe das Blut meines Bruders überall auf meinem Körper verteilt und mich tot gestellt“,  sagte der kleine Ali der Nachrichtenagentur Associated Press am Mittwoch über Videochat. Wenn er erzählt, klingt seine Stimme heiser, aber sachlich und ruhig – und das nur fünf Tage nach einem Blutbad, das ihn zum Waisen machte.

Wie der Elfjährige berichtete, begann seine Mutter zu weinen in dem Moment, in dem etwa  elf Männer mitten in der Nacht in ihr Haus eindrangen. Sie führten Alis Vater und den ältesten Bruder ins Freie. „Warum habt Ihr sie mitgenommen? Warum habt Ihr sie mitgenommen?“, habe seine Mutter immer wieder geschrien. Später kamen sie zurück um den Rest zu töten.

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„Als er meine Schwester auf dem Flur sah, schoss er ihr sofort in den Kopf“
Als sich Ali mit seinen verbleibenden Geschwistern zusammenkauerte, kam ein Mann in Zivil und nahm seine Mutter mit in das Schlafzimmer. Er schoss ihr fünf Mal in Kopf und Rücken. Dann kam er mit einer Taschenlampe zurück. „Als er meine Schwester auf dem Flur sah, schoss er ihr sofort in den Kopf.“

Ali hatte sich zusammen mit seinen Brüdern Nader, 6, und Aden, 8, in einer Ecke versteckt. Er schoss auf seine beiden Brüder – die beiden waren sofort tot. Dann schoss er auf Ali und verfehlte ihn. „Ich hatte schreckliche Angst und zitterte am ganzen Leib“, berichtete er in dem Skype-Gespräch. Er lebt inzwischen bei Verwandten in Houla. 

Ali ist einer der wenigen Überlebenden des Gemetzels – seine Version der Geschichte von unabhängiger Seite zu prüfen, ist momentan nicht möglich. Die Nachrichtenagentur Associated Press kam in Kontakt mit ihm über Anti-Regime-Demonstranten die ein Skype-Interview mit ihm anberaumten.

Ali ist einer der wenigen Überlebenden des Houla-Massakers vom vergangenen Wochenende. Houla ist eine Region mit armen Bauerndörfern und Olivenhainen in Syriens zentraler Provinz Homs. Bei dem Überfall wurden mehr als 100 Menschen getötet, unter ihnen viele Frauen und Kinder. Die Killer drangen dabei in die Häuser ein, erschossen und erstachen ihre Opfer.

Weltweites Entsetzen
Das Blutbad zog weltweite Empörung nach sich. Die internationale Gemeinschaft verurteilte Präsident Bashar al-Assad scharf, der gegen die Aufstände in seinem Land mit massiver Gewalt vorgeht. Aktivisten sagen, dass rund 13.000 Menschen getötet wurden, seit die Revolte im März 2011 begann.

UN-Inspektoren und Zeugen berichten, dass einige der Morde von den phantomhaften „Shabiha“-Kämpfern begangen wurden. Die Shabiha ist eine Miliz, die im Auftrag von Assads Regierung operiert. Sie rekrutiert sich aus Kämpfern der alawitschen Glaubensgemeinschaft, zu der auch Assad gehört. Sie sind bekannt geworden für ihre Massentötungen, Folterungen und Vergeltungsschläge. Sie ermöglichen es dem Regime, eine direkte Verantwortung für die Grausamkeiten abzuschieben.

Sie sind in vielerlei Hinsicht noch schrecklicher als Assads Armee und seine Sicherheitskräfte – deren Taktik ist es, auf Wohngegenden zu schießen und gezielt Demonstranten auszuschalten.

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Aktivisten, die nach dem Blutbad in Houla beim Einsammeln der Leichen halfen, berichten von verstümmelten Körpern in den Straßen, und Massen von in Decken eingewickelten Toten.

„Ich sah ein Kind, dessen Gehirn aus dem Kopf ragte, ein anderes, das kein Jahr alt war, mit Einstichlöchern im Kopf. Der Geruch des Todes war überall", sagte Ahmad al-Qassem, ein 35-jähriger Aktivist

Das Regime weist jegliche Verantwortung für das Massaker von sich. Angeblich seien „Terroristen“ verantwortlich für die Grausamkeiten. Und selbst wenn die Shabiha verantwortlich sind für das Blutbad - klare Beweise gibt es tatsächlich nicht, dass die Regierung es anordnete. In einem Land, das sich Schritt für Schritt auf den Bürgerkrieg zubewegt, gibt es keine klaren Verantwortlichkeiten mehr.

Die genauen Hintergründe des Massakers sind noch unklar, es werden aber zunehmend Zeugenberichte laut. Die Aufstände in Syrien gehören zu den gewalttätigsten des arabischen Frühlings; dennoch sticht das Houla-Massaker auch hier wegen seiner Brutalität und Unbarmherzigkeit heraus.

Neue, eskalierte Form der Gewalt
Das Massaker von Houla steht – mehr noch als der inzwischen fast tägliche Beschuss von Wohngegenden und Mörserattacken – für eine neue, eskalierte Form der Gewalt.

Aktivisten in der Gegend berichten, dass die Armee die Dörfer vor dem Massaker mit ihrer Artillerie beschoss und sich Scharmützel mit den Rebellen in der Region lieferte. Nach Anti-Regime-Protesten in der Region waren zunächst einige Demonstranten getötet worden. Die restlichen Regimegegner wurden zum Rückzug gezwungen. Erst nach dem Artilleriebeschuss jedoch stürmten die Milizen die Gegend, und ihnen fielen die meisten Menschen zum Opfer.

Der syrische Aktivist Maysara Hilaoui berichtete, er konnte das Gemetzel von seinem Haus aus beobachten. Er sagte es habe zwei Wellen der Gewalt gegeben, eine am Freitag um 17 Uhr, Samstagmorgen um vier Uhr die zweite. „Als die Rebellen die Gegend verlassen hatten, stürmten die Shabiha-Kämpfer die Dörfer“,  sagte er. „Sie brachen in die Häuser ein und töteten Junge und Alte.“

Laut den Zeugenberichten verläuft die Gewalt auch an religiös-gesellschaftlichen Trennlinien. Die überfallenen Dörfer wurden primär von Sunniten bewohnt, die Shabiha-Kämpfer kamen aus einer Region von Alawiten, einer Untergruppe der Schiiten.

Die meisten Shabiha gehören zu den Alawiten, ebenso wie die Assad-Familie und die Elite des Landes. Die Killer sind daher absolut loyal zu dem Regime. Sie fürchten, dass sie verurteilt würden, wenn die sunnitische Mehrheit die Oberhand in dem Land gewinnt. Von den 22 Millionen Einwohnern des Landes gehört die Mehrheit zur Gruppe der Sunniten. Auch die Rebellen sind es mehrheitlich, obwohl sie sagen, dass ihre Bewegung rein säkular ist.

Tiefe Gräben zwischen Alawiten und Sunniten
Al-Qassem, der Aktivist der beim Einsammeln der Leichen geholfen hatte, sagte, die Aufstände haben tiefe Gräben zwischen Alawiten und Sunniten hinterlassen. „Natürlich hat das Regime hart daran gearbeitet, eine Atmosphäre der Angst unter den Alawiten zu schaffen“, sagte al-Qassem. Der Aktivist ist zwar aus Houla, sein Dorf wurde allerdings verschont am vergangenen Wochenende. „Der Hass wird immer mehr geschürt. Assad hat den Alawiten gesagt, dass ein Ende seines Regimes ein Ende ihrer Dörfer und ihres Lebens ist.“


Tage nach dem Massaker seien immer noch viele Menschen vermisst. „Ali kann zwar die Geschichte von der Ermordung seiner Familie erzählen“, sagt al-Qassem. Die volle Wahrheit über das Massaker werde jedoch nie publik. „Es gibt keine Augenzeugen über das Massaker – sie sind alle tot.“

Associated Press

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