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Kritische Reaktion im Netz: Gauck 1 ist nicht Gauck 2

Vor anderthalb Jahren war Joachim Gauck der Star bei den Usern von Twitter und Facebook. Doch jetzt, da seine Wahl zum neuen Bundespräsidenten als sicher gilt, fallen die Reaktionen deutlich kühler aus. Auch die Piraten fremdeln mit dem früheren Pfarrer. 



Jetzt könnten sie ihre T-Shirts mit dem Konterfei von Joachim Gauck wieder herausholen: "Yes, we Gauck!" Doch viele der meinungsfreudigen Netznutzer, die sich im Sommer 2010 vehement für Christian Wulffs damaligen Gegenkandidaten ausgesprochen hatten, sehen den Ex-Pfarrer heute viel kritischer. Die Euphorie hat sich bei vielen abgekühlt. Besonders die Piratenpartei lehnt einige Positionen des Bürgerrechtlers strikt ab. 

Bei der letzten Bundespräsidentenwahl feierte mancher Gauck wie einen Popstar. Mit Logos und Websites, Textilien und Tweets sprachen sich Tausende für den Kandidaten von SPD und Grünen aus. Auch jetzt unterstützen viele Internetnutzer den 72-Jährigen. "Was besseres kann uns in Deutschland nicht passieren", schreibt etwa ein Nutzer in der Facebook-Gruppe "Joachim Gauck als Bundespräsident", der bis zum Nachmittag rund 27 000 Nutzer beigetreten sind. "Ein Bundespräsident mit echter Bürgernähe und einem offenen Herzen sowie einer emotionalen Integrität die Vertrauen schafft." 

Sympathisch, ein Mann des Volkes, eine ehrliche Haut - das sehen viele so. Doch es mischen sich kritische Stimmen in den Jubel, auf Facebook wie auf Twitter, wo mancher unter dem Schlagwort (Hashtag) #notmypresident (Nicht mein Präsident) gegen Gauck wettert. 

Kandidat des "Establishments"
"Es besteht ein großer Unterschied zwischen Gauck 1 und Gauck 2", sagt der Politikwissenschaftler Christoph Bieber. Zum einen gelte der ostdeutsche Theologe nicht mehr als möglicher Bürgerpräsident, sondern spätestens nach dem Auftritt mit den Parteivorsitzenden am Sonntag als Kandidat des "Establishments". Zum anderen gerieten einige Äußerungen der vergangenen Monate auf "Wiedervorlage" und sorgten für Unbehagen, erklärt der Professor von der Universität Duisburg-Essen. 

Der wichtigste Punkt: Etliche netzaffine Nutzer unterstellen Gauck, die in der Szene verhasste Vorratsdatenspeicherung zu befürworten. Auch seine Geringschätzung für die Occupy-Bewegung ("wird schnell verebben") verzeihen ihm viele der eher links orientierten Nutzer nicht. Und die Piratenpartei stößt sich daran, dass der 72-Jährige einst Pfarrer war - die Partei lehne die Verquickung von Staat und Kirche strikt ab. 

Gauck sei eine "große Persönlichkeit, die eine große Geschichte" habe, sagt Christopher Lang, Sprecher der Bundespartei. Doch es gebe einige Flecken auf der weißen Weste des Bürgerrechtlers - vor allem dass er die Vorratsdatenspeicherung nicht eindeutig ablehne. "Das ist ein Punkt, über den wir nicht diskutieren", sagte Lang der Nachrichtenagentur dpa. 

Gauck hatte bei einer Podiumsdiskussion im Jahr 2010 gesagt, dass er Deutschland trotz Vorratsdatenspeicherung nicht auf dem Weg zu einem Spitzelstaat sehe - aber auch, dass eine Beschneidung von Grundrechten verhältnismäßig sein müsse und die Regierung in der Pflicht sei, "tragfähige Belege" für den Erfolg vorzulegen. Eine klare Zustimmung zur Vorratsdatenspeicherung klingt anders, trotzdem steht Gauck in der Kritik.  Großen Einfluss auf die Wahl hat die Piratenpartei zwar nicht. Aber dank ihres Erfolgs bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus darf sie zumindest zwei Vertreter in die Bundesversammlung schicken. Wer das sein wird und ob die Wahlmänner für Gauck stimmen, hat die Partei noch nicht geklärt - genauso wenig, ob es überhaupt ein einheitliches Meinungsbild geben wird. 

Die Berliner Abgeordneten wollen darüber in einer geschlossenen Fraktionssitzung sowie auf einer Mitgliederversammlung sprechen, die ohnehin fürs Wochenende geplant war. Auch mit dem Bundesvorstand werde man sprechen, sagte der Abgeordnete Christopher Lauer der dpa. Den Schwerpunkt sieht er aber bei den Berliner Vertretern: "Die müssen die Verantwortung für die Entscheidung tragen." 

dpa