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Totes Flüchtlingskind: «So ein Bild trifft direkt ins Herz»

Was löst der Anblick des herzzerreißenden Fotos im Kopf aus? Darf man es zeigen? Antworten zu der weltweiten Debatte:

Warum löst gerade dieses eine Foto eine solche Bestürzung aus?

«So ein Bild trifft direkt ins Herz und direkt in unsere Psyche», sagt der Psychologe Michael Thiel. «Das sagt viel mehr über das Elend von Flüchtlingen aus als jedes Gefasel von Politikern und anderen Leuten. Es macht deutlich: Es sind nicht nur irgendwelche abstrakten Flüchtlingskrisen.» Ein unschuldiges kleines Kind habe aufgrund der Zustände sterben müssen. «Und das ist etwas, was keinen Menschen kaltlässt.» Das Bild habe Symbolkraft, «weil es auf der einen Seite so spektakulär, so schlimm und so traurig» sei und auf der anderen Seite es wirke, als ob «ein schlafendes Kind angespült worden ist».

Was geht im Kopf des Betrachters vor?

«Wir Menschen sind in der Regel dazu fähig, mit so einem Bild eine ganze Szenerie im Kopf entstehen zu lassen», sagt Psychologe Michael Thiel. Sogenannte Spiegelneuronen im Gehirn seien in der Lage, beim Anblick einer solchen Szene ein ganzes «Gefühlskaleidoskop» auszulösen. «Eine Mischung aus Trauer, aus Wut, aus Bestürzung, aus all diesen Gefühlen, die mit so einer Flüchtlingskrise verbunden sind. Und wahrscheinlich überlegt auch jeder von uns: Wie kommt das Kind dazu, an diesem Strand tot zu liegen? Was ist dem vorangegangen? Hat es Eltern gehabt, die es nicht beschützen konnten?»

Was sagen Ethik-Experten?

«Ich glaube, man kann das Bild zeigen», sagt der Medienethiker Prof. Alexander Filipović. «Es wäre mir zu schnell gesagt, dass man es aus ethischer Perspektive auf keinen Fall bringen könne. Denn das Bild zeigt doch in, glaube ich, bisher einzigartiger Weise die Dramatik der Flüchtlingskrise und die Unmenschlichkeit, die damit verbunden ist. Die Realität ist komplex und die Leiden sind vielfältig. Und wenn es tatsächlich so ein Bild gibt, in dem das aufgefangen werden kann, dann kann es angezeigt sein, das Bild zu verwenden.»

Gibt es auch Kritik?

Das Bild polarisiert stark. In Sozialen Medien überwiegen zwar die Betroffenheit und Zustimmung, die Szene abzubilden. Aber es gibt auch viele kritische Stimmen. Anlaufstelle war nicht selten auch der Deutsche Presserat. «Zehn Beschwerden sind schon eingegangen. Und wir erwarten noch mehr in dem Zusammenhang», sagte die Pressesprecherin des Selbstkontrollorgans der Printmedien, Edda Eick. «Im Kern geht es um drei Ziffern des Pressekodex. Die Ziffer 1 betrifft Wahrhaftigkeit und Achtung der Menschenwürde. Ziffer 11 behandelt Sensationsberichterstattung. «Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid.» Der Schutz der Persönlichkeit - Ziffer 8 - würde miteinbezogen, wenn möglicherweise die Person zu erkennen ist.»

Warum war der Protest beim Foto der toten Flüchtlinge im LKW stärker?

«Es gibt einen Unterschied zwischen den beiden Bildern», sagt Ethiker Filipović. «Das Bild aus dem LKW erzeugt ein Grauen beim Anschauen. Und ich glaube, dieses Grauen kann kaum produktiv in dem Sinne werden, dass es Menschen vielleicht bewegt, sich mehr für Flüchtlinge oder eine gerechtere und friedvollere Politik einzusetzen. Ich glaube, das erzeugt ein Sich-abwenden, das motiviert zum Wegschauen. Das Bild des toten Jungen ist auch in gewisser Weise unzumutbar, weil es so dermaßen traurig ist. Allerdings ist es eine ganz andere Stimmung, die dieses Bild vermittelt. Und ich glaube, eine sehr tiefe Traurigkeit kann in einem Menschen etwas bewegen.» Wenn er persönlich zu entscheiden hätte, würde er aber keins der beiden Bilder zeigen.

Wird sich das Bild vom Kind ins Gedächtnis der Menschheit einbrennen?

Das Foto der neunjährigen Vietnamesin Kim Phúc, die splitternackt vor Napalm flieht, wurde 1972 Symbol für den Vietnamkrieg. Wird auch das Bild vom toten syrischen Flüchtlingskind ein Stück Geschichte? Fotografie-Professor Rolf Nobel zögert. Zwar stehe die Szene für die «grausige Entwicklung» in Syrien. «Was die Foto-Ikonen aber generell auszeichnet, ist - in dem Zusammenhang mag man es kaum sagen - eine bestimmte gestalterische Kraft. Und das weiß ich eben nicht: Ob die inhaltliche Komponente ausreichen wird, dieses Bild ins ewige visuelle Gedächtnis der Menschheit zu rücken, wie das beim Che-Guevara-Bild oder beim Mädchen aus Vietnam der Fall ist.»

Stiftungslehrstuhl für Medienethik

Süddeutsche.de über die Entscheidung, das Bild nicht zu zeigen