Übertriebene Selbstoptimierung - Neurowissenschaftler: Hype um 5AM Club zu verbreiten, grenzt an Körperverletzung

Hype um 5 AM Club: Nicht jeder ist dazu bestimmt, ein Morgenmensch zu sein.<span class="copyright">Getty Images/skynesher</span>
Hype um 5 AM Club: Nicht jeder ist dazu bestimmt, ein Morgenmensch zu sein.Getty Images/skynesher

Naiven Tipps für die Produktivität zu folgen, kann gefährlich werden, doch wie kann es dann funktionieren? Business-Coach und Neurowissenschaftler Frederik Hümmeke erklärt, wie Sie wirklich Ihr Wohlbefinden verbessern und mehr Erfolg im Berufsleben haben.

Was sind konkrete Beispiele, wie die Selbstoptimierung nach hinten losgeht und sogar schadet?

Das Internet ist voll mit Selbstoptimierungstipps. Tue dieses oder tue jenes und du wirst stärker, schöner, produktiver und überhaupt erfolgreicher. Diese Tipps können funktionieren. Oft tun sie das aber nicht. Im Gegenteil: Die Massenanwendung generischer Selbstoptimierungstipps aus dem Internet schadet oft mehr als das sie nützt.

Ein passendes Beispiel ist Yoga, eine körperliche Übungsform, die allgemein wegen ihrer positiven Effekte auf Körper und Geist geschätzt wird. Dennoch, wenn Personen mit instabilen Knien anspruchsvolle Yoga-Positionen praktizieren, ohne diese an ihre spezifischen Bedürfnisse anzupassen, kann dies zu Schmerzen und Verletzungen führen, anstatt zur gewünschten Verbesserung des physischen und psychischen Zustands.

So ist es auch mit vielen anderen Beispielen, in denen bei vermeintlich erfolgreichen Persönlichkeiten Routinen abgeschaut werden und als seligmachendes Erfolgsrezept für alle ausgegeben werden. Wenn es bei uns nicht klappt, sind wir häufig sogar noch zusätzlich frustriert und gestresst. „War ja klar, lassen wir das mit der Produktivität“, denken wir.

Besonders wütend macht mich in diesem Zusammengang der Hype um den 5AM Club und um die Idee, jeden Tag um 5 Uhr morgens aufzustehen, um die erste Stunde des Tages ganz für sich selbst zu nutzen. Diese Praxis wird angeblich von Menschen wie Tim Cook, Heidi Klum oder Richard Branson angewandt, die dadurch die Energie bekommen, mehr an einem Tag zu schaffen als andere. Diesen Tipp naiv zu verbreiten, grenzt für mich an Körperverletzung.

Unsere Körper folgen natürlichen und ganz individuellen Rhythmen. Diese Rhythmen bestimmen nicht nur, wie lange wir schlafen sollten, sondern auch, wann wir diesen Schlaf beginnen sollten. Nicht jeder ist dazu bestimmt, ein Morgenmensch zu sein, und das Durchbrechen dieses natürlichen Zyklus durch erzwungenes Frühaufstehen kann den Körper unter Stress setzen, zu Schlafmangel führen und letztendlich die psychische wie physische Gesundheit beeinträchtigen.

Forschungen haben ergeben, dass chronischer Schlafmangel die Fähigkeit der Neuronen, korrekt zu funktionieren, beeinträchtigt, was zu verzögerten Reaktionszeiten und verringerten kognitiven Fähigkeiten führt. Längere Phasen von unzureichendem Schlaf können neuronale Schäden verursachen, die unter anderem Gedächtnisverlust, Konzentrationsschwierigkeiten und in schweren Fällen sogar ernsthafte psychische Erkrankungen nach sich ziehen können. Das hört sich für mich nicht nach Optimierung an.

Wie kann eine gesunde Schlaf-Routine die Produktivität im Business-Bereich steigern?

Eine gut strukturierte und individuell angepasste Schlaf-Routine kann wesentlich zur Steigerung der Produktivität im Business-Bereich beitragen. Ausreichender und gesunder Schlaf verbessert die kognitive Funktion, fördert die Problemlösungsfähigkeiten und erhöht die Aufmerksamkeit. Zusammengenommen führt das fast automatisch zu einer effizienteren Bearbeitung von Aufgaben und einem besseren Schutz vor chronischem Stress.

Vor allem aber lassen sich aus dem Schlafrhythmus die individuellen Zeitfenster ableiten, in denen höchste Produktivität möglich und am leichtesten erreichbar ist. Diese Phasen sind die sogenannten Flow-Fenster, die eine um ein Vielfaches höhere Produktivität ermöglichen. Allerdings nicht, wenn Sie ausgerechnet dann müde oder mit Verdauung beschäftigt sind. Unser Schlafrhythmus - und das meint vor allem, wann Sie zu Bett gehen und wieder aufstehen - ist eingebettet in den zirkadianen Rhythmus, ein etwa 24-Stunden-Zyklus in dem die physiologischen Prozesse von allen Lebewesen, einschließlich Menschen, Pflanzen, Mikroorganismen und Tieren passieren.

Dieser Rhythmus beeinflusst weitreichend die Schlaf-Wach-Zyklen, Hormonausschüttung, Körpertemperatur und andere wichtige Körperfunktionen. Und dieser Rhythmus ist eben höchst individuell. Nicht jeder Mensch benötigt immer acht Stunden Schlaf. Manche benötigen mehr, manche aber auch weniger.

Im Gegensatz zu allgemeingültigen Optimierungstipps trägt diese BioTimeBoxing genannte Methode diesem Umstand Rechnung. Denn abhängig von unserem individuellen Schlafbedürfnis sind auch die Zeiten, in denen wir am besten essen sollten, die am besten für körperliche Aktivitäten geeignet sind und in denen wir am besten arbeiten können – und das ist eben nicht bei jedem um 5 Uhr früh.

Welche Rolle spielt die körperliche Gesundheit bei der Erhaltung der Produktivität und wie kann man sie verbessern?

Körperliche Gesundheit – und hier geht es nicht um ein naives „mens sana in corpore sano“ – ist die Voraussetzung für optimale Produktivität, das weiß jeder, der sich schonmal mit Erkältungssymptomen oder dem Kater vom Vortag durch einen Arbeitstag geschleppt hat. Es geht allerdings nicht um die Abwesenheit von Krankheiten oder körperlichen Einschränkungen, sondern um ein bewusstes Optimieren der körperlichen Grundlagen von Produktivität. Neben der Erfüllung des extrem wichtigen Schlafbedürfnisses, aufgeteilt in Schlafdauer und Schlafbeginn, bilden Ernährung und Bewegung die Grundlagen für eine dauerhafte Produktivität.

Auch diesen Zusammenhang kennt jeder, der nach einem schweren Mittagessen versucht hat, wieder in die Konzentration zu finden. Essen Sie maßvoll und möglichst unverarbeitete Lebensmittel – geben Sie ihrem Gehirn, was es braucht. Essen Sie nicht in den letzten fünf Stunden vor dem Schlafengehen, wann das ist, ist abhängig von Ihrem individuellen Rhythmus – und idealerweise auch nicht innerhalb der ersten Stunde nach dem Aufwachen. Und seien Sie nicht päpstlicher als der Papst.

Essen hat nicht nur die Funktion, unseren Körper mit Nährstoffen zu versorgen, sondern spielt auch eine große Rolle bei unserem emotionalen Wohlbefinden. Zum Beispiel wird etwa 95 Prozent des Serotonins nicht im Gehirn, sondern im Magen-Darm-Trakt produziert. Serotonin ist das Wohlfühlhormon, das für wohlige Behaglichkeit sorgt.

Ähnliches gilt für Bewegung. Wenn sie sich vornehmen, ab morgen jeden Tag 10 Kilometer zu joggen, wird das bei vielen Menschen eher Stress als Vorfreude auslösen. Trotzdem gilt, dass schon maßvolle Bewegung ihre Gesundheit und Ihre Konzentrationsfähigkeit und Produktivität verbessern wird. Auch hier wieder ein extremes Beispiel: Wenn der Bandscheibenvorfall erst da ist, werden Sie für Wochen oder Monate nicht produktiv sein können.

Schlaf, Ernährung und Bewegung: Aus meiner Sicht sind dies – und in dieser Reihenfolge – die wichtigsten Hebel, um eine hohe Wirksamkeit zu erzielen. Denn echte Wirksamkeit entsteht, wenn wir mit unserem Körper und unserem Gehirn arbeiten, anstatt gegen sie.

Wie kann man seine Produktivität erhöhen?

Wenn Sie Ihren individuellen Rhythmus kennen und ihre Aktivitäten nach dem BioTimeBoxing-Prinzipien ausrichten, werden Sie automatisch produktiver. Aus diesem Rhythmus ergeben sich aber wie beschrieben auch Zeitfenster, in denen Sie wirklich hoch-produktiv sein können, die Flow-Fenster.

Im nächsten Schritt geht es nicht nur darum, diese Fenster zu kennen, sondern auch darum, sie zu nutzen. Das bedeutet, mit einer schwierigen Aufgabe zu beginnen, wenn es Zeit dafür ist. Und damit sind wir am größten Hemmschuh von Produktivität: Prokrastination.

Prokrastination, die Vermeidung von Aufgaben oder ihres Beginns, ist kein Bug, sondern ein Feature unseres Gehirns. Wir müssen, vor allem wenn wir erst damit beginnen, Flow-Fenster nutzen zu wollen, unser Gehirn ein bisschen überlisten. Besser ausgedrückt: wir müssen mit unserem Gehirn und nicht gegen unser Gehirn arbeiten. Wir können dazu mit der Methode des „State-Management“ arbeiten.

Flow bezeichnet einen Zustand völliger Vertiefung und Aufgehen in einer Tätigkeit, bei dem Zeit und Außenwelt in den Hintergrund treten. Diese psychologische Erfahrung ist charakterisiert durch starkes, müheloses Konzentrieren und das Gefühl, die Kontrolle über die Situation oder Aktivität zu haben. Flow führt nicht nur zu einer Steigerung der Produktivität, sondern auch zu einer höheren Zufriedenheit bei der Arbeit.

Personen im Flow-Zustand erleben ihre Aufgaben als intrinsisch motivierend, was sich positiv auf die Arbeitseffektivität auswirkt. Wenn Sie bei der Arbeit oder beim Lernen noch keinen Flow erlebt haben, dann haben Sie ihn ganz bestimmt im Spiel erlebt. Und wenn es lange her ist, dass Sie einfach mal gespielt haben, dann wird es Zeit, wieder damit anzufangen, denn es ist eine wunderbare Gelegenheit, etwas zu tun, was Sie gerne machen und dabei ganz nebenbei den Flow zu erleben.

Achten Sie dabei genau auf die Signale Ihres Körpers:

  • Was spüren Sie in diesen spielerischen Momenten kurz vor dem Flow?

  • Was sind die Signale, dass Sie gleich in den Flow gleiten?

  • Was passiert immer wieder, bevor Sie in den Flow gehen?

Wenn Sie das spüren und erinnern können, können Sie diese innere Verfassung immer wieder reproduzieren. Sie können bestehende Kompetenzmuster durch bewusste Aktivierung nutzen. Wenn Sie also in den Flow-Modus wechseln möchten, können Sie sich schon vorher bewusst in die richtige Stimmung versetzen.