1000 Euro für Straftäter - Abgeschobene Afghanen: Internes Schreiben offenbart Widersprüche beim Handgeld
Eine Stelle unter der Leitung von Ministerin Faeser hat in einem Schreiben ein Handgeld an abzuschiebende Afghanen vorgeschlagen. Im Text gibt es aber auch Hinweise darauf, dass es in manchen Fällen keine Argumentationsgrundlage für die Zahlung gab. Und auch die Berechnung der Höhe wirft Fragen auf.
Innenministerin Nancy Faeser verfolgt bei der Abschiebung von straffällig gewordenen Afghanen eine doppelte Kommunikationsstrategie: Für die Umsetzung des jüngsten Flugs nach Kabul will die SPD-Politikerin sich feiern lassen. Bei kritischen Fragen zur Handgeld-Zahlung an die Kriminellen weist sie aber jede Verantwortung von sich und zeigt auf die Bundesländer.
Wie FOCUS online recherchiert hat , spricht Faeser dabei aber nur einen Teil der Wahrheit aus. Richtig ist zwar, dass die Länder schlussendlich der Handgeld-Zahlung in Höhe von 1000 Euro pro Person zugestimmt haben. Der Vorschlag dafür ging jedoch vom Gemeinsamen Zentrum zur Unterstützung der Rückkehr (ZUR) aus – einer Bund-Länder-Stelle unter Leitung Faesers.
Das ZUR verschickte vor der Abschiebung eine Handreichung an die zuständigen Landesministerien. „Wegen verschiedener Nachfragen“ habe man die Argumentation zum Thema Handgeld zusammengetragen.
Handreichung verweist auf sich bessernde humanitäre Lage
In dem Schreiben, das FOCUS online vorliegt, wird zunächst Altbekanntes referiert. Zum Beispiel geht es um die Frage, „wie in einem gerichtlichen Verfahren die Feststellung eines Abschiebungsverbotes wegen drohender unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK vermieden werden kann“. Gemeint ist die Europäische Menschenrechtskonvention, die von deutschen Verwaltungsgerichten teilweise so ausgelegt wird, dass einer drohenden Verelendung im Heimatland der Abgeschobenen mit einem Handgeld entgegengewirkt werden muss.
Einige Absätze später stellt die Handreichung aber genau dieses Risiko infrage. Das Oberverwaltungsgericht Greifswald hatte 2023 in einem Urteil die „Integrierte Klassifizierung der Ernährungssicherheitsphasen“ (IPC) zum Maßstab für Verelendung gemacht. Liegt zum Beispiel der Anteil von Afghanen in „Phase 3“ bei 25 Prozent oder weniger, ist das für eine Abschiebung kein Problem, ein Handgeld müsste demnach nicht unbedingt bezahlt werden. Phase 3 bedeutet laut IPC eine „akute Nahrungsmittel- und Lebensunterhaltskrise“.
Die Handreichung referiert diesbezüglich: „Dieses Mindestniveau ist in zahlreichen Regionen in Afghanistan gewährleistet, für Mai bis Oktober 2024 liegt der Wert im ganzen Land bei 28 Prozent.“ Von über 40 Millionen Einwohnern seien im April nur 2,9 Millionen in einer Notlage gewesen. Außerdem nehme die Zahl „laut Prognosen rapide ab, Aufstiege in Phase 1, 2 sind ebenfalls signifikant“. Die Phasen 1 und 2 bedeuten Ernährungssicherheit beziehungsweise eine grenzwertig unsichere Ernährung.
Hätte in Einzelfällen das Handgeld gespart werden können?
Selbst mit Blick auf ganz Afghanistan sind die Grenzwerte also nur minimal überschritten, ab denen ein gewichtiger Grund für Handgeld vorliegt. Maßgeblich ist laut Handreichung aber ohnehin der Wert für die Bevölkerung „in der Zielregion“. Dieser dürfte in Afghanistan teilweise über, teilweise aber auch unter der Grenze von 25 Prozent in Phase 3 liegen.
Da die abgeschobenen Afghanen nicht alle aus dem gleichen Landesteil stammen, könnten manche von ihnen also auch nicht unter die Vorgaben des Verwaltungsgerichts fallen. Die Handreichung kommt trotzdem allgemein zum Schluss: „Aus fachlicher Sicht wird die Auszahlung eines Handgeldes für rückgeführte Personen nach Afghanistan in Höhe von 1000 Euro pro Person als Leistung der zuführenden Länder befürwortet.“
Das bedeutet im Klartext: Deutschland hat möglicherweise Straftätern Geld bezahlt, obwohl das in einzelnen Fällen nicht nötig gewesen wäre. Zwar gab es tatsächlich einige wenige abgeschobene Personen, die keine 1000 Euro erhalten haben. Mit deren Herkunftsregion und der humanitären Lage dort hatte das aber offenbar nichts zu tun. Einige Bundesländer führten auf Nachfrage von FOCUS online nur ein eigenes Vermögen der Straftäter als Grund an.
Warenkorb für siebenköpfige Familie ist Grundlage für Argumentation
Das Schreiben geht auch darauf ein, warum 1000 Euro für angemessen gehalten werden. Zum einen entspricht der Betrag der Höhe der „finanziellen Starthilfe für freiwillig Rückkehrende“, die aus einem speziellen Förderprogramm kommt. Zum anderen wird ein „Mindestwarenkorb“ herangezogen, den die Asylagentur der EU berechnet hat.
In diesem Warenkorb enthalten sind Grundnahrungsmittel, Non-Food-Produkte wie Seife, Baumwollkleidung, Zahnpasta, Unterwäsche, Menstruationsartikel und Wasser sowie weitere Ausgaben für Bildung, Transport, Unterkunft, Kommunikation und medizinische Versorgung. „Mit Handgeld in der vorgeschlagenen Höhe eigenständig und ohne weitere Einkommensquellen“ könne ein Abgeschobener eine siebenköpfige Familie für mehr als drei Monate mit diesen Produkten versorgen.
Übernachtungsmöglichkeit und Essen für unter einem Euro pro Tag
Ob die abgeschobenen Afghanen tatsächlich alle eine Familie in ähnlicher Größe haben, ist nicht bekannt. Eine Person, die nur sich allein ernähren muss, kommt mit 1000 Euro nach Berechnungen der Handreichung rund 11 Monate bei Kauf der oben genannten Produkte aus. Kommt ein Afghane zunächst in einem Teehaus unter, reicht das Geld sogar für ein Vielfaches der Zeit. In den Häusern stehen Übernachtungsmöglichkeiten und Essen für teilweise unter einem Euro pro Tag zur Verfügung.
Da die Höhe des Handgelds Gerichten zufolge nur „vorübergehend die notwendigsten Bedarfe“ decken muss, wie es im Schreiben heißt, sind 1000 Euro also hoch gegriffen. Wie lange genau das Geld zum Lebensunterhalt reichen muss, haben Gerichte bislang nicht näher definiert.
Die Abgeschobenen können neben dem Handgeld mit weiteren Hilfen rechnen, „denn darüber hinaus leisten internationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen in Afghanistan humanitäre Hilfe“ heißt es. Als Beispiele dafür werden in dem Schreiben die Flüchtlingshilfe und das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen angeführt, außerdem das Internationale Rote Kreuz.