1000 Kilometer durch Deutschland - Jetzt rebellieren die Mitarbeiter! Zugfahrt zeigt, was das System Bahn kollabieren lässt
FOCUS online ist mit der Bahn quer durchs Land gereist. Nah- und Fernzüge in Verbindung mit Schienenersatzverkehren legen das planerische Chaos und die Schwächen im maroden Netz offen. Am meisten schockiert aber, was Lokführer und Fahrdienstleiter berichten.
Ungeplanter Halt am Bahnhof Hannover Messe/Laatzen, die letzte Überraschung an einem typisch-chaotischen Montagabend bei einer Reise mit der Deutschen Bahn. Ein Fahrgast steht entnervt am Bahnsteig. „Das wird der dritte Anschluss, den ich heute verpasse“, sagt er resigniert.
In diesem Fall trifft das Unternehmen allerdings keine Schuld. Eine Frau ist kurz nach der Abfahrt in Göttingen kollabiert, im Zug offenbar kein Arzt anwesend. „Die Rettungskräfte erreichen diesen Bahnhof besser als den Hauptbahnhof“, erklärt ein Zugbegleiter und bittet darum, von Fragen nach der Dauer des unverhofften Aufenthalts abzusehen.
„Ich fahre nur selten Bahn und es ist jedes Mal das Gleiche“
Die meisten Fahrgäste reagieren mit Verständnis, doch der Unmut über die Gesamtsituation ist vielen anzumerken. „Ich fahre nur selten Bahn und es ist jedes Mal das Gleiche“, sagt der Fahrgast am Bahnsteig.
Zwei Tage vorher, Abfahrt am Samstagmittag mit dem IC in Bremen. Der Zug fährt pünktlich los, doch schon bald droht die erste Verzögerung: Ein Fahrgast zeigt das Deutschlandticket als Fahrkarte – das gilt im Fernverkehr nicht und bedeutet Strafe.
Er weigert sich, seine Personalien zu nennen. Höflich, aber bestimmt stellt ihn die Zugbegleiterin vor die Wahl: Ausweis oder Bundespolizei. Nach einigen Minuten Diskussion lässt sich die Kontrolleurin auf den Kompromiss ein, dass der Mann ein Flexpreis-Ticket in der App nachlöst.
Davon profitieren alle: Die Bahn bekommt ihr Geld, der Mann spart sich Ärger, die Bundespolizei muss nicht anrücken und der Zug nicht ungeplant halten. Da dankt man der Kontrolleurin als Fahrgast innerlich.
Trotz solch unangenehmer Situationen zeichnet die Zugbegleiterin ein positives Bild von ihrem Beruf. „Ich bin sehr zufrieden und kann nichts Negatives sagen“, sagt sie und lächelt.
Die Frau stieß erst vor einem Jahr als Quereinsteigerin dazu. In der Gastronomie habe sie gelernt, mit verschiedensten Menschentypen umzugehen: „Da war auch immer Chaos.“
Anders als ihre routinierten Kollegen kennt sie die Bahn nur so, wie sie aktuell ist. Künftig sollen noch weniger Zugbegleiter als bisher den Betrieb am Laufen halten - stellenweise nur einer für mehr als 1000 Passagiere.
Lokführer: „Es sind wichtige Umleitungsstrecken weggefallen“
Noch vor Münster muss die Zugbegleiterin dann die Zugbindung eines Sparpreis-Tickets aufheben. Der Regionalexpress nach Köln fällt aus, wenige Minuten später geht immerhin ein ICE in die gleiche Richtung.
Doch der muss wegen einer Überholung länger am Bahnsteig bleiben, mehrfach kommt es zu ungeplanten Stopps – Verspätung: zehn Minuten. Wegen Personen im Gleis bei Essen verzögert sich der Ablauf weiter, 20 Minuten Verspätung. Für solche Sperrungen kann die Bahn ähnlich wie bei medizinischen Notfällen nichts.
Doch das Streckennetz ist mit inzwischen 33.400 Kilometern ausgedünnter als noch 1885. „Es sind auch wichtige Umleitungsstrecken weggefallen“, beklagt ein Fernverkehrs-Lokführer im Gespräch mit FOCUS online. Das führe zwangsläufig zu Engpässen, wenn die Auslastung zunimmt. Das gesamte Netz sei inzwischen marode: „Die Hauptverursacher sitzen da mit gefüllten Taschen.“
„Typisch Bahn“, kommentiert eine wartende Familie am Bahnsteig in Köln
Ankunft am Kölner Hauptbahnhof. Aus dem geplanten Aufenthalt von etwa einer Stunde werden unverhofft fast drei, was den großzügig gedachten Reiseplan zunichtemacht. Die App vibriert und zeigt eine 70-minütige Verspätung des Anschlusszuges in Köln an – als der Zug gerade erst in Hamburg abfährt. Laut Info eine Baustelle.
„Typisch Bahn“, kommentiert eine wartende Familie. Bei einem wichtigen, zeitkritischen Termin wäre der Stressfaktor nun deutlich größer. In der Vergangenheit hat das auch schon dazu geführt, dass sich der Reporter am Bahnhof kurzfristig ein Mietauto organisieren musste.
Den Frust der Fahrgäste und Kollegen kann ein Service-Mitarbeiter in Köln gut verstehen. „Es sind jetzt viele Baustellen auf einmal und hintereinander“, sagt er. Der Bahn-Konzern habe es versäumt, die Sanierung des Netzes frühzeitig anzugehen.
In der Ferienzeit mit vollen Zügen zeige sich das umso deutlicher, zumal auch die Schnellstrecke zwischen Frankfurt und Köln vier Wochen lang gesperrt war. Trotzdem findet der Mann: „Die Rahmenbedingungen sind okay.“
Lokführer: „Das hält man auf Dauer nicht aus“
Schlechter gelaunt zeigt sich ein anderer Mitarbeiter. „Es könnte besser sein“, sagt er und meint vor allem das Schichtsystem, in dem er arbeitet. Kurze Ruhepausen und spontane Dienstplanänderungen, teils ohne Rücksprache: Das schlage aufs Gemüt und die Gesundheit.
Ganz ähnlich äußert sich ein Lokführer, der FOCUS online nach den jüngsten Bahn-Berichten kontaktiert hat. „Das hält man auf Dauer nicht aus“, sagt er. Frühschichten folgen auf Nachtschichten, manchmal arbeitet er 50 bis 60 Stunden, bevor er einen Tag frei hat, erzählt der Mann.
Die Kollegen in den Werkstätten würden ebenfalls in Sonderschichten arbeiten, um den Betrieb am Laufen zu halten. Dass sich der Lokführer meldet, bezeichnet er als „Hilferuf aus der Belegschaft“.
Interne Kritik verlaufe regelmäßig im Sande. Der Mann hat eigenen Angaben zufolge 20 Jahre Erfahrung als Lokführer. Er meint: „Die Einsatz- und Bauplanung ist vollkommen überfordert und unterbesetzt.“ Manchmal, so erzählt er es, weiß er erst einen Tag im Voraus, in welche Schicht er eingeteilt wurde.
„Die DB benimmt sich immer noch wie eine aufgeblähte Behörde“
Ein Fahrdienstleiter spricht gegenüber FOCUS online von einem „unmenschlichen Schichtsystem“ mit zu kurzen Regenerationsphasen. Deswegen habe er nun nach sieben Jahren die Kündigung eingereicht.
„Dieses System hat mich gesundheitlich ruiniert, deswegen musste ich jetzt dringend weg“, sagt er. Den Krankenstand in seiner Abteilung beschreibt der Fahrdienstleiter als überdurchschnittlich hoch.
An seinem Arbeitsplatz habe er Spinnen und Kakerlaken entdeckt, auf die Genehmigung für ein einfaches Fliegengitter wartete der Mann eigenen Angaben zufolge rund 2,5 Jahre. „Die DB benimmt sich immer noch wie eine aufgeblähte Behörde“, sagt er.
Auch von den Führungskräften fühlt sich der Fahrdienstleiter alleine gelassen und nicht wertgeschätzt. Und dann ist da noch die alte und fehlerhafte Technik, Lösungen benötigen seiner Erfahrung nach oft Wochen oder sogar Monate.
Planer verlieren manchmal selbst den Überblick
Deshalb und wegen „rückständiger Befehlsübermittlungen“ an die Lokführer bedeute jede neue Baustelle für die Fahrdienstleiter „Stress pur“. „Alles muss zur Sicherheit wiederholt werden und schon wieder sind zehn Minuten verloren.“
Unzufriedenheit mit bestimmten Abläufen im Betrieb kommen in jedem Unternehmen vor. Doch was die Bahnmitarbeiter berichten, ist ein anderes Kaliber. Aus vielen spricht die pure Verzweiflung oder Resignation.
Immer wieder berichten Bahn-Mitarbeiter davon, dass mit der Privatisierung viele Probleme erst geschaffen wurden: die Gewinnorientierung, die trotzdem immer neue Verluste bringt. Das Kaputtsparen der Infrastruktur bis hin zum Fastkollaps. Die Zersplitterung in ein Unternehmensgeflecht, das niemand mehr durchblicken kann, mit Hunderten Tochterfirmen.
Bahn verweist auf Generalsanierung
Bei der deutschen Bahn kann man den Frust „unserer Kolleginnen und Kollegen“ über die „alte, störanfällige Infrastruktur“ verstehen. Das schreibt das Unternehmen auf Anfrage von FOCUS online.
Gefolgt von einem Verweis auf das neue, hauseigene Prestigeprojekt. „Mit der Generalsanierung schaffen wir ein robustes Hochleistungsnetz. Mit einem neuen Baustellenkonzept bauen wir nach Fahrplan und im festen Takt. Nur so können wir das riesige Bauvolumen bewältigen.“ Dieses Jahr soll die Überalterung der Infrastruktur erstmals gestoppt werden, sogar von einer „Trendwende“ ist die Rede.
Zu den 50- bis 60-Stunden-Wochen, die ein Lokführer im Gespräch mit unserer Redaktion beklagt hat, heißt es nur: „Wie Mitarbeitende bei der DB eingesetzt werden, beruht auf Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes, tariflichen Bestimmungen und ergänzenden betrieblichen Regelungen.“
Sämtliche Einsätze, Ruhezeiten und Freistellungen würden von den Betriebsräten mitbestimmt. Sollten Überstunden anfallen, „können sich die Mitarbeitenden die diese je nach Tarifvertrag beispielsweise auszahlen, sie auf ein Langzeitkonto oder in die betriebliche Altersvorsorge einzahlen, oder eine Freistellung beantragen“.
Sicherheit hat bei der Bahn „oberste Priorität“, schreibt das Unternehmen
Dann schreibt das Unternehmen noch, dass Sicherheit bei der Deutschen Bahn „oberste Priorität“ habe. Der Zugverkehr werde beispielsweise durch redundante Zugsicherungssysteme abgesichert.
„Das heißt: In einem Gleisabschnitt kann nur ein Zug fahren. Sollte ein Zug auch nur in den davor liegenden Abschnitt einfahren, würde er von den Systemen sofort gestoppt.“
Auf die Vorwürfe eines Mitarbeiters, es gäbe Kakerlaken und Spinnen am Arbeitsplatz und man müsse jahrelang auf Kleinigkeiten wie ein Fliegengitter warten, reagiert die Bahn in ihrem Statement nicht.
Schienenersatzverkehr nach Frankfurt
Unterdessen tönt aus den Lautsprechern am Kölner Hauptbahnhof im Minutentakt: „Wir bitten um Entschuldigung.“ Mit rund 90 Minuten Verspätung trifft schließlich der ICE Richtung Mannheim ein.
Über die Quadratestadt geht dann auch die Rückfahrt in den Norden. Nach Frankfurt wird aktuell die Riedbahn erneuert, fünf Monate soll die Strecke gesperrt sein. Im Minutentakt rollen daher Busse über die Straßen, um eine Alternative zu bieten; Fernverkehrszüge nehmen eine Umleitung.
Was der Fahrplan allerdings erst im Kleingedruckten verrät: Der Schienenersatzverkehr wie der RE70 nach Frankfurt fährt unter der Woche nicht vom Hauptbahnhof ab, sondern erst ab Luzenberg.
Am Haupteingang zeigen Hinweisschilder deshalb den Weg zur Straßenbahn an. An denen wird aus der Linie 3 plötzlich die Linie 1 und während auf dem Plakat 17 Minuten Fahrtzeit angeschrieben stehen, zeigt die App 22 Minuten an. Zumal dann noch ein kleiner Fußweg zur Bushaltestelle nötig ist – der geplante Bus ist damit abgefahren.
„Der Bus fährt besser als der Zug“
Dafür steht 20 Minuten später ein moderner lila Bus bereit: komfortable Sitze, USB-Ladestellen an jedem Platz, angenehm klimatisiert. Eine Toilette für die 2,5-stündige Fahrt gibt es ebenfalls. Routiniert meistert der Fahrer so manche enge Straßenführung und brenzlige Situation.
Inzwischen klappe das auch relativ gut, sagt ein Fahrgast. „Der Bus fährt besser als der Zug“, kommentiert er und lacht. Nur die ersten Wochen seien schwierig gewesen: „Die meisten Busfahrer sprechen kein Deutsch und trotz Vorbereitung sind sie in die falsche Richtung gefahren“, erzählt er.
Einmal habe er dem Fahrer den Weg von Darmstadt nach Frankfurt zeigen müssen, weil das Navigationssystem ihm eine falsche Linie zugewiesen habe. Doch solche Abenteuer nimmt der Fahrgast gelassen. „Hauptsache, ich komme hin und zurück“, sagt er.
In dem Bus kommt es dann zur wohl kuriosesten Überraschung der Reise. Kurz vor der Autobahnabfahrt zeigt die voraussichtliche Ankunftszeit plötzlich rote Zahlen an. Erst rund 30 Minuten, bald schon mehr als 40 – dabei ist aus den Seitenfenstern bereits der Hauptbahnhof mit der runden Stahlkonstruktion der Bahnsteighalle zu sehen.
Obwohl der Bus sein Ziel zwei Minuten früher als geplant erreicht, bleibt die Verspätungsanzeige stehen. Mit dem ICE geht es dann wie gewohnt verspätet – Personalwechsel und verzögerte Freigabe zur Abfahrt – in Richtung Hannover Hauptbahnhof.
Lokführer leiden mehr als jeder Reisende
Zwar kann der Bahn in Hannover nicht der medizinische Notfall angelastet werden. Doch am Bahnsteig in Laatzen wird es mangels Informationen trotzdem chaotisch: Der Zug hält auf Gleis 16, wo laut Anzeige in wenigen Minuten die S-Bahn zum Hauptbahnhof eintreffen soll.
Erste Reisende stürmen verunsichert und hektisch in Richtung Straßenbahn, um die sichere Alternative zu nehmen. Die braucht allerdings 20 Minuten länger. Erst mit Verzug zeigt zunächst die Anzeige den Gleiswechsel an den Bahnsteig gegenüber an, dann kommt auch die erlösende Durchsage. So mancher Anschlusszug wird damit immerhin noch erreicht.
Einmal mehr zeigt sich damit, dass das Reisen mit der Bahn eigentlich angenehm sein könnte. Mit Bahncard 50 sind die Ticketpreise für Alleinreisende mittlerweile konkurrenzfähig zum Auto. Familien können Zeit mit ihren Kindern verbringen. Auch das Internet ist über weite Strecken ausreichend, um Nachrichten zu verschicken und zu surfen.
Doch selbst Pünktlichkeitswerte wie die anvisierten 70 Prozent sind schlichtweg zu gering, um als verlässliches Verkehrsmittel zu gelten. Den Frust der Fahrgäste bekommen dabei regelmäßig diejenigen ab, die am wenigsten dafür können.
Die Gespräche insbesondere mit den Lokführern hinterlassen den Eindruck, dass sie unter dem alltäglichen Bahnchaos mehr leiden als jeder Reisende, der gelegentlich ein paar Stunden zu spät zu einem Termin kommt.