"Jeder, der 20 Jahre einen Job macht, hinterfragt das"

"Schafft man es, sich gemeinsam zu entwickeln? Irgendwohin zu wachsen?": Bevor das neue Album "Limbo" entstehen konnte, geisterten in der Band Mia. große Fragen umher. In der Folge wurde vieles geändert und manche Träne verdrückt.

Mia. waren eine der ersten Bands, denen es um die Jahrtausendwende gelang, Pop auf Deutsch cool wirken zu lassen. Die Berliner Elektropop-Gruppe, die einst mit Punk anfing, blieb bei ihrem Erfolgsrezept - seit nunmehr über zwei Dekaden. Das neue Album "Limbo" markiert dennoch einen Neuanfang für Mia., wie Andy Penn, Gunnar Spies, Robert Schütze und Mieze Katz im Interview erklären. Ein Gespräch über Tränen, die Sinnfrage, Löcher im Käse und koreanische Volkslieder.

teleschau: Im Stück "KopfÜber" heißt es: "Wage Schritt auf neues Land / Werde wieder Debütant / Alles rasend unbekannt / Alles Rohdiamant". Wie viel Neuanfang steckt in dem neuen Album "Limbo"?

Mieze Katz: In erster Linie haben sich zwei Dinge geändert: Zum einen haben die Jungs dieses Mal auch an den Texten mitgeschrieben, zum anderen haben wir uns nach 18 Jahren von unserem Manager und Produzenten Nhoah getrennt - das war schon ein großer Einschnitt, plötzlich mit einem anderen Produzenten in einem anderen Studio mit einem anderen Recording-Ablauf zu arbeiten.

teleschau: Was war der Grund für diese Veränderung?

Mietze Katz: Nach einer so langen Zeit ist es ganz gesund und natürlich, sich mal auseinanderzudividieren und neue Ufer auszuloten. Und als diese Entscheidung gefallen war, haben wir gleich "KopfÜber" geschrieben.

teleschau: Warum gab es diesen Neuanfang erst nach 18 Jahren? Das ist ja, insbesondere im Pop-Business, eine sehr lange Zeit.

Gunnar Spies: Wir hatten natürlich schon länger darüber nachgedacht und sprachen erstmal sehr ergebnisoffen darüber. Wir wollten wissen: Gibt es noch Dinge, die raus wollen? Lieder, die noch nicht geschrieben sind? Themen, die wir noch behandeln müssen? Erfahrungen, die zu dieser Band gehören, die wir aber noch nicht erlebt haben?

"Das Stellen der Sinnfrage halte ich für eine Stärke"

teleschau: Haben Sie sich innerhalb der Band auch mal die Sinnfrage gestellt? Ob über 20 Jahre Mia. nicht vielleicht auch reichen?

Andy Penn: Vor dem Jubiläum (2018, Anm. d. Red.) gab es mal eine Phase, in der wir uns fragten, was wir eigentlich noch zu sagen haben. Und zumindest ich fragte mich, ob wir unsere Munition nicht schon verballert haben.

teleschau: War es schwer, eine Antwort darauf zu finden?

Penn: Total. Wir waren damals jeden Tag im Proberaum und versuchten, Songs zu schreiben. Wir konnten das aber selbst nicht mehr bewerten, waren viel zu nah dran und hatten keinerlei Relation mehr zu dem, was wir da machten.

Mieze Katz: Das ist ja auch normal. Jeder, der 20 Jahre einen Job macht, hinterfragt das.

teleschau: Also gab es Zweifel?

Spies: "Zweifel" klingt so nach Unsicherheit und Schwäche, aber das Stellen der Sinnfrage halte ich für eine Stärke. Es bedarf viel Kraft, sich intensiv damit auseinanderzusetzen und eine ehrliche Antwort darauf zu finden. So ein Jubiläum ist da ein günstiger Augenblick, zumal wir ein paar Dinge neu arrangierten und dadurch gezwungen waren, darüber nachzudenken. Wir haben schnell gemerkt, dass keiner von uns Lust auf einen reinen Verwaltungsmodus hat: einfach nur stumpf weiterzumachen wie bisher. Wir wollten einen Grund für die weitere Existenz dieser Band haben, und das ist nun diese Platte.

teleschau: Gab es einen konkreten Moment, in dem Sie merkten "Ja, wir wollen weitermachen"?

Spies: Den gab es während des ersten Teils der "Nie wieder 20"-Tour. Danach waren wir anders. Es gab davor ja keine konkreten Probleme, aber wir erlebten uns auf dieser Tour so positiv, dass es danach einen Switch gab, der uns extrem motivierte.

teleschau: Sie waren offenbar alle zur selben Zeit an einem Punkt, an dem Sie eine Veränderung wollten ...

Penn: Ja, stimmt. Aber selbst wenn es mal Zweifel gab, die ein Einzelner ausgesprochen hat, begriffen wir uns stets als Band - als ein Kollektiv, das sich nur weiterentwickeln kann, wenn wir alle das entsprechende Mindset dazu haben. Wir führten deshalb viele Gespräche und haben Geduld gezeigt. Das ist unser Vorteil gegenüber egozentrierten Bands.

teleschau: Können Sie das ausführen?

Penn: Bei uns steht niemand im Mittelpunkt. Es gibt niemanden, der sein persönliches Interesse über die Band stellt und sie dadurch zerreißt. Wir wissen, dass wir untereinander immer irgendwann die richtigen Worte finden, um unserem Gegenüber in der Band darzulegen, was unsere Gedanken sind. Keiner von uns denkt über die anderen: "Das werden die eh nie verstehen."

Mieze Katz: Aber natürlich gehört auch viel Glück dazu. Das ist ja wie in einer Beziehung, wo immer die Frage mitschwingt: Schafft man es, sich gemeinsam zu entwickeln? Irgendwohin zu wachsen? Wir sind zwar eine Band, aber natürlich auch vier eigenständige Menschen. Deswegen ist das auch kein Prozess, der sich innerhalb von wenigen Tagen oder Wochen abspielt. Es braucht Jahre, um sich gemeinsam in eine Richtung zu entwickeln.

"Das ist fürchterlich anstrengend manchmal, aber es wird schon irgendwie hinhauen"

teleschau: Hören Sie diese Entwicklung nun aus der neuen Platte heraus?

Mieze Katz: Nicht direkt, aber sie steckt ganz sicher da drin. Anders als Gunnar, der schon nach der Tour das Gefühl hatte, dass es läuft, hatte ich das immer wieder mal, aber auch immer mal wieder nicht.

teleschau: Wann hat das aufgehört?

Mieze Katz: Erst am letzten Tag, als wir uns die Masterbänder anhörten und ein verwackeltes Foto mit Champagner-Flasche schossen. Ab da wusste ich: Et läuft! Dat isset. Erst da hatte ich ein ganzheitlich gutes Gefühl. Vorher gab es immer noch Löcher im Käse.

Spies: Um so etwas miteinander besprechen zu können und sich darauf einzulassen, braucht man aber ein unerschütterliches Vertrauen in diese Konstellation - egal, ob man erst einen Song oder bereits 20 geschrieben hat. Aber es war klar: Wir sind alle, wie wir sind. Das ist fürchterlich anstrengend manchmal, aber es wird schon irgendwie hinhauen.

teleschau: Mieze Katz, Sie haben die Texte auf diesem Album zum ersten Mal nicht alleine geschrieben. War es schwer, diese Arbeit zu teilen beziehungsweise abzugeben?

Mieze Katz: Ja - Katastrophe! Am Anfang jedenfalls. Wir wussten ja gar nicht, wie wir zum Thema Text miteinander kommunizieren sollen.

teleschau: Hatten Sie diesen Schritt denn gemeinsam beschlossen?

Mieze Katz: Das hatte sich so ergeben - und war auch gut, zumal sich leichter Gesangslinien schreiben lassen, wenn es bereits einen richtigen Text gibt. Der Text kommt bei uns oft erst zum Schluss, aber wenn Andy sagt, er würde gerne mit einer Skizze vorankommen, braucht er oft eine Idee für die Haltung des Songs. Und da drängt es sich auf, dass man mal eine Zeile schreibt oder einen Dummy-Text baut.

teleschau: Worin genau lag die anfängliche Schwierigkeit beim gemeinsamen Texten?

Mieze Katz: Das Problem war gar nicht, dass plötzlich alle mitreden wollten, sondern dass plötzlich alle anfingen zu werten. Dieses schnelle "Das ist blöd! Das kann man so nicht sagen! Bitte nicht!": Das tat mir extrem weh.

teleschau: Ging Ihnen das allen so?

Mieze Katz: Robert meinte einmal, er fände Kritik generell super. Denn wenn alle sagen "so nicht!", dann kann er damit gut umgehen. Ich habe aber festgestellt: ich nicht (grinst).

teleschau: Wieso nicht?

Mieze Katz: Ich bin eher die zarte Pflanze. Wenn die sich mal mitteilt, das dann aber direkt zerschossen wird, setzt mir das zu. Mir hilft es eher, wenn bei all dem Wust jemand sagt: "Das ist aber ein schönes Wort" - positive Verstärkung. Wenn darauf dann Kritik folgt, kann ich damit viel besser umgehen. Das wirkt bei mir wirklich Wunder. Das wusste ich so konkret vorher aber auch noch nicht.

teleschau: Obwohl Sie alle schon so lange zusammenarbeiten?

Mieze Katz: Komisch, oder? Das herauszufinden war wirklich ein langwieriger Prozess. Viele Gespräche haben dann geholfen - und ein behutsamer Umgang beim Kritisieren der Ideen der anderen.

Penn: Wir hatten ja zum ersten Mal die Situation, dass wir zu viert herumsaßen und an der Spitze des Stiftes den Text schrieben. Da Worte entstanden wirklich in dem Augenblick. Das Tolle daran war: Man konnte easy darüber sprechen, weil noch keiner Aktien an diesen Worten hatte. Da war es dann auch leichter, welche wieder fallen zu lassen.

Mieze Katz: Das war aber auch erst toll, als wir an diesem Punkt angekommen waren.

Robert Schütze: Und die Mimik der anderen dazu tat manchmal trotzdem weh (grinst).

"Ein paarmal Tränchen verdrückt, wenn es bei solchen Gesprächen ums Eingemachte ging"

teleschau: Das klingt nach einem schmerzhaften Prozess.

Spies: Ich bin diesbezüglich der unflexibelste und steifste Typ in dieser Band. Worte können mir solche Schmerzen bereiten. Das sieht man mir dann auch an. Ich kann nichts dagegen machen.

teleschau: Wie gehen Sie damit um?

Spies: Ich denke mir: Diese Band ist der Ort, an dem ich mir so etwas leisten kann. Wenn die anderen etwas scheiße finden und mich bitten, es sein zu lassen, kann ich zwar trotzdem nicht anders, aber es wird mir verziehen. Glaube ich zumindest.

Mieze Katz: Das kennen wir ja auch nicht anders von dir (grinst).

Spies: Das ist aber nicht lustig - weder für euch noch für mich. Deswegen werde ich dann auch oft ganz ruhig und sage lange gar nichts, weil es noch in mir arbeitet.

Mieze Katz: Was ich zum gemeinsamen Texten aber noch sagen möchte: Ich würde es jetzt nicht mehr anders wollen. Ich empfinde das als unglaubliche Bereicherung. Ich liebe diesen gemeinsamen Prozess.

teleschau: Gibt es in Sachen Textfindung weitere spannende Anekdoten?

Mieze Katz: Für das Stück "Reisen" suchten wir Synonyme für "sich rausnehmen" - über Tage. Gunnar, Robert und ich grübelten uns zu Tode, während Andy etwas anderes zu tun hatte, unter Kopfhörern dasaß und eigentlich gar nicht da war. Aus Spaß meinten wir dann irgendwann: "Ey Andy, sag doch jetzt auch mal was!" Und er dann so: "Was? Häh?! Ich klinke mich gerade aus." Stille.

teleschau: Das war der Begriff, der Ihnen noch gefehlt hatte.

Mieze Katz (lacht): Genau! Im Raum herrschte plötzlich eine Mischung aus hochgradiger Frustration, weil uns das nicht eingefallen ist, und totaler Erleichterung, weil das nun eben die Zeile ist: "Alles hält an, kann alles warten, bis ich morgen wiederkomm' / Ich klinke mich aus, lasse mich treiben / Lehn' mich zurück, schick' die Gedanken auf Reisen".

Penn: Für mich erfüllte sich mit dieser Arbeitsweise ein Traum. Das hatte ich mir immer gewünscht: so zusammen Musik zu machen, dass alles direkt passiert. Dass jemand ein Wort reinwirft und das passt, das passiert ja nur ganz selten. Häufig nähert man sich dem über Gespräche an - und dadurch redet man automatisch viel mehr miteinander, auch über die eigenen Biografien. Dadurch lernt man sich noch einmal ganz neu und besser kennen.

Spies: Es ist einfach ein tolles Gefühl, wenn man merkt, dass es einen gemeinsamen Vibe gibt und man wirklich über das Gleiche redet. Wenn man merkt, dass man verstanden wird und sich im Anschluss in den Armen liegt.

Mieze Katz: Gunnar und ich haben auch ein paarmal Tränchen verdrückt, wenn es bei solchen Gesprächen ums Eingemachte ging.

"Dieser Moment war größer als wir"

teleschau: In "Tortenguss" singen Sie: "Was wir jetzt erleben, wird einmal Erinnerung sein." Was waren die schönsten Momente in Ihrer bisherigen Karriere?

Mieze Katz: Ganz generell: das gemeinsame Reisen mit und durch Musik. Das hat einen ganz besonderen Stellenwert. Auch die Anfänge, als wir das gemeinsame Reisen noch üben mussten.

Penn: Da haben wir diverse Gitarren und Portemonnaies in Bussen und Flugzeugen liegengelassen (Gelächter).

Mieze Katz: Aber dieses besondere Erlebnis, auf einer Bühne zu stehen - ob in Jekaterinburg oder Beijing, also in Städten, wo niemand unsere Sprache spricht, und die Leute uns im Herzen aber trotzdem verstehen: Dass Musik Grenzen überwindet, hatten wir alle schon mal gehört, aber das zu erleben und zu spüren, ist etwas vollkommen anderes. Das hat mich verändert.

teleschau: Können Sie ein konkretes Beispiel dafür nennen?

Mieze Katz: In Korea traten wir vor vielen Jahren mal in einer Art Philharmonie auf und spielten dort unser Punkrock-Programm vor größtenteils älterem Publikum. Wir dachten schon im Vorfeld schon: "Das geht nach hinten los. Wahrscheinlich gehen die alle." Wir hatten aber ein koreanisches Volkslied einstudiert und das brachte die Wende. Die Leute sind aufgesprungen, haben gejubelt - und dann stand da diese bunte Punkrock-Band aus Berlin und war davon total ergriffen. Danach gingen wir von der Bühne, haben uns in den Armen gelegen und geheult, weil wir selbst nicht mehr wussten wohin mit uns. Dieser Moment war größer als wir. Das trage ich seither in mir.