Bis zu 250.000 Demenzfälle vermeidbar - 2 neue Risikofaktoren: Neurologe sagt, wie Sie Ihr Demenzrisiko effektiv senken
Die Zahl der Demenzerkrankungen steigt weltweit an. Doch wie kann man sich schützen? Der Arzt, Gesundheitsforscher und Neurowissenschaftler Tobias Esch erklärt, welche Faktoren das Risiko erhöhen und was jeder einzelne tun kann, um dieses zu minimieren.
12 Risikofaktoren für die Demenzentwicklung hat die Lancet-Kommission bereits 2020 genannt. Welche waren das und welche zwei kommen nun neu hinzu?
Während die Weltbevölkerung zahlenmäßig zunimmt und die Menschen insgesamt glücklicherweise länger leben, nimmt auch die Zahl der Betroffenen von Demenz weltweit kontinuierlich zu. Gleichzeitig wächst das Wissen über die Faktoren, die Demenz auslösen können oder mit ihr im Zusammenhang stehen, da die langjährige Forschung und verbesserte Analyse der Daten wichtige Impulse auch für die Behandlung und insbesondere Prävention der Demenz voranbringen.
Ohne Frage deckt sich diese notwendige Forschung mit einem immer größer werdenden Bedarf.
Aufgrund einer umfassenden Zusammenschau aller vorhandenen Daten konnten bereits 2020 von der „Lancet standing Commission on dementia“ zwölf wichtige Risikofaktoren für die Entwicklung von Demenzen identifiziert werden: Neben den lang schon bekannten Faktoren wie Rauchen oder einem unbehandelten Bluthochdruck – beides mitverantwortlich bspw. für Gefäßschäden, die mit der Demenzentwicklung maßgeblich im Zusammenhang stehen – sind auch weniger naheliegende Faktoren identifiziert worden, nämlich
eine verringerte Bildung bzw. Lernbarrieren
ein Hörverlust oder Schwerhörigkeit
Übergewicht
körperliche Inaktivität
Diabetes
Depression
exzessiver bzw. erhöhter Alkoholkonsum
Schädel-Hirn-Traumata und Hirnverletzungen
Luftverschmutzung, Feinstaub
sowie insbesondere Einsamkeit und soziale Isolation.
Zu diesen bekannten Faktoren, die teilweise in den Verhältnissen und der Umwelt begründet sind, v.a. aber im Verhalten der Menschen, sind nun, infolge der aktuellen Analyse, noch zwei weitere hinzugekommen: ein erhöhter Cholesterinwert – hier sei insbesondere das „böse“ LDL-Cholesterin genannt – sowie eine unbehandelte Fehlsichtigkeit bzw. Visuseinschränkung, ein Sehverlust.
Allen genannten 14 Faktoren ist gemein, dass sie als prinzipiell vermeidbar oder beeinflussbar angesehen werden.
Wie viele Demenzfälle in Deutschland könnte eine gute Prävention demnach verhindern?
Grundsätzlich gehen wir für Deutschland gegenwärtig davon aus, dass bis zu 90% aller Erkrankungen und Todesursachen auf prinzipiell lebensstilbedingte bzw. beeinflussbare und vermeidbare Ursachen zurückgehen. Wenn wir weiterhin davon ausgehen, dass ein großer Teil von Demenzerkrankungen ebenfalls grundsätzlich vermeidbar gewesen wären oder sind, wie beschrieben, dann kommen Prävention und Gesundheitsförderung im Kontext auch von Demenzen eine enorm hohe Bedeutung zu.
Sehen wir uns die weltweiten Daten an, wie jetzt im aktuellen Lancet-Bericht, dann können wir von einem Präventionspotenzial von knapp 50% ausgehen. Für Deutschland wurde bereits im Jahr 2023 ein modifizierbarer bzw. lebensstilbedingter Anteil an Demenzen von 40% festgestellt. Irgendwo zwischen 40-50% scheint demnach die Größenordnung einer Vermeidbarkeit von Demenzen zu liegen.
Wenngleich diese Zahlen im Einzelfall schwer nachzuprüfen sein mögen und auch individuelle Unterschiede in Bezug auf Prävention, Anfälligkeit oder Therapierbarkeit bestehen sowie die Möglichkeit einer Beeinflussung bestimmter Risikofaktoren von Fachleuten unterschiedlich interpretiert wird, so kann doch insgesamt davon ausgegangen werden, dass grob die Hälfte der Demenzfälle über präventive und gesundheitsförderlichen Maßnahmen erreicht oder gar gänzlich vermieden werden können: bei knapp 500.000 Neuerkrankten in Deutschland in jedem Jahr kämen wir also auf 200.00-250.000 „unnötige“ Fälle jährlich.
Was kann jeder einzelne für seine Gesundheit tun, um das Risiko einer Demenzerkrankung zu verringern?
Allgemein arbeiten wir im Kontext von Gesundheit und einer gesunden Lebensführung mit dem Bild vom „äußeren“ und „inneren Arzt“. Den Teil einer Heilung von innen – das also, was man selbst tun kann, was jenen „inneren Arzt“ ausmacht – fassen wir auch unter dem Akronym BERN zusammen, wie an dieser Stelle schon beschrieben.
BERN ist gewissermaßen das generelle „Rezept für Gesundheit“.
Will sagen: Gesundheitsförderung und Prävention bestehen im Wesentlichen aus vier Säulen. Hier liegt das Selbstheilungspotenzial begründet – oder eben der „Selbstheilungscode“.
Diese vier Säulen der Gesundheit lassen sich auch auf eine gesunde Lebensführung zur Demenzprophylaxe anwenden:
B steht dabei für Behavior oder Verhalten: Was wir tun und denken, wie wir unseren „Geist“ einsetzen und trainieren, womit wir uns umgeben, woran wir glauben, unsere Einstellungen; auch das soziale Netz gehört hier hinein. Für das Präventionspotenzial bei der Demenz, in Abgleich mit den beschriebenen Risiken, hieße das: sich bilden, lernen; eine Gemeinschaft bzw. ein soziales Netz haben, verbunden sein und Verbundenheit „praktizieren“, wobei auch Natur oder Haustiere dazugehören können.
E steht für Exercise oder Bewegung: hier geht es um die Faktoren einer regelmäßigen körperlichen Aktivität und eines nicht rein sesshaften Lebensstils. Jede Minute und jeder Schritt zählen!
R steht für Relaxation oder Entspannung, aber auch für Meditation, Spiritualität und einen Glauben, ganz allgemein für eine „Stresshygiene“, wozu genauso ein erholsamer Schlaf gehört. Und bitte möglichst dafür sorgen, dass man nicht voller Gram oder Stress ins Land der Träume gerät: Aktuelle Forschungen zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen regelmäßigen Albträumen und einer Demenzentwicklung zu geben scheint. Eine gute Schlafhygiene und -rhythmik dagegen helfen, dem entgegenzuwirken, wobei einige Stunden vor dem Schlafengehen „schwere Kost“ (körperlich, aber auch geistig) sowie erhöhte Alkoholmengen zu vermeiden sind.
Bliebe am Ende noch N für Nutrition der Ernährung: Gesundes Essen, Vermeidung von Übergewicht und Diabetes, soweit möglich, aber auch Tabak- und Nikotinkonsum seien in diesem Kontext genannt. Alkohol (d.h. wenig!) sei erneut angegeben, und schließlich auch ein gut eingestellter Cholesterinwert.
Wie schätzen Sie die Ergebnisse der Lancet-Kommission ein?
Die Ergebnisse sind überzeugend. Sie bestätigen vorherige Forschungen, wie beschrieben, und passen somit schlüssig ins Bild. Neben den geschilderten Dingen, die man selbst tun kann, um einer Demenz bestmöglich vorzubeugen, ergänzt die Lancet-Kommission weitere Faktoren, die man vielleicht nicht so sehr im Blick hatte.
Denken wir an die effektive Behandlung von Hör- und Sehproblemen; die erfolgreiche Prophylaxe oder Behandlung einer Depression bzw. wiederkehrender depressiver Episoden; die Vermeidung von Luftverschmutzung, Feinstaub; schließlich auch an die Verringerung des Risikos für Hirnverletzungen und Schädel-Traumata. Genannt sei in diesem Kontext auch das Tragen von Helmen in Beruf, Freizeit und Privatleben, dazu die Diskussion zur Frage, wieweit bestimmte Sportarten oder Freizeitaktivitäten, auch berufliche Expositionen, wiederkehrende Erschütterungen im Gehirn auslösen können und ob jene mit der Entwicklung von degenerativen Hirnerkrankungen – neben der Demenz sei hier z.B. auch auf die Parkinsonerkrankung verwiesen – im Zusammenhang stehen können. Hier sind neben der Gesellschaft auch Politik sowie Industrie und die Unternehmen gefragt. „BERN in all Policies!“
All das wirft der Bericht der Lancet-Kommission auf, die maßgeblichen Autor:innen vom University College London sowie der Universität Oslo sind langjährige Expert:innen im Feld, ihre Analysen sind schlüssig, fundiert, glaubwürdig und ausführlich.