„30 Prozent Überlebenschance reichten mir" - Ann Kristin lehnt Krebs-OP ab und fährt Motorrad – dann wird ihrem Arzt etwas klar

Ann Katrin Kreft und Heribert Jürgens bei einem gemeinsamen Auftritt auf der Leipziger Buchmesse.<span class="copyright">Deutsche Krebshilfe/Claudia Masur</span>
Ann Katrin Kreft und Heribert Jürgens bei einem gemeinsamen Auftritt auf der Leipziger Buchmesse.Deutsche Krebshilfe/Claudia Masur

Ann Kristin Kreft hatte als Jugendliche Krebs, Arzt Heribert Jürgens hat sie behandelt. Doch sie war keine gewöhnliche Patientin und machte lieber den Motorradführerschein als sich einer OP zu unterziehen. Der renommierte Arzt hat aus dem Fall gelernt, wie man mit jungen Krebspatienten umgehen sollte.

FOCUS online: Frau Kreft, wie haben Sie gemerkt, dass mit Ihrem Körper etwas nicht stimmt?

Ann Kristin Kreft: Ich wollte als Teenagerin immer eine Primaballerina werden, dafür habe ich fast jeden Tag Ballett trainiert. Doch irgendwann habe ich Rückenschmerzen bekommen und ein Arzt ist zunächst von einem Bandscheibenvorfall ausgegangen. Nach weiteren Untersuchungen hat sich aber herausgestellt, dass ich einen Tumor im Becken habe.

Das klingt vielleicht komisch, aber im ersten Moment war es für mich eine Erleichterung, dass es kein Bandscheibenvorfall ist. Als junger Mensch dachte ich, dass Krebs nur eine Krankheit bei alten Leuten ist . Deshalb bin ich sehr optimistisch an die Sache gegangen, als ich dann zu Heribert in die Uniklinik gekommen bin.

Wie war das für Sie, als Ihnen die Tragweite der Diagnose bewusst wurde?

Kreft: Am Anfang hat mich neben Heribert noch ein weiterer Arzt betreut, der mir klarmachen wollte, dass ich das Ballett-Tanzen vergessen kann. Ich solle froh sein, wenn ich überhaupt noch laufen könne. Das war natürlich schlimm für mich. Heribert war hingegen immer sehr diplomatisch, das hat geholfen.

Heribert Jürgens: Wie man die Diagnose erklärt, ist bei Kindern ein besonders wichtiges Thema. Man sollte das Kind nach Möglichkeit nie vor die Tür schicken und mit den Eltern alleine sprechen. Es ist für das Kind furchtbar, wenn es draußen steht und sich Gedanken machen muss, was drinnen besprochen wird.

„Es braucht ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Arzt und Patient“

Kreft: Ich hätte mich auch gar nicht für die Tür setzen lassen. Aber es war wirklich so, ich durfte bei allen Gesprächen dabei sein. Ich hatte das Gefühl, dass Heribert mit mir auf Augenhöhe gesprochen hat und ich nicht einfach eine Nummer war, die alles mit sich machen lassen muss. Ich glaube, das ist für die Psyche enorm wichtig.

Jürgens: Man muss das Kind vom ersten Tag an einbeziehen und es gibt nichts, über das man nicht sprechen kann mit ihm. Die Krankheit und den Grund der Behandlung zu erläutern, ist wichtig, um das Vertrauen des Kindes zu gewinnen. Es braucht ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Arzt und Patient, nicht von oben herab. Das war aber zu der damaligen Zeit oft noch nicht selbstverständlich.

Die USA, wo ich eine Zeit lang gearbeitet hatte, haben das ganz anders gemacht. Dort war es zum Beispiel vor 50 Jahren schon die Regel, dass Eltern bei ihrem Kind im Krankenhaus schlafen dürfen, während dies in Deutschland noch lange nicht fest etabliert war. Für die Kinder ist es von entscheidender Bedeutung, in der Klinik einen Ort zu haben, in dem sie sich wie zu Hause wohlfühlen können.

Warum ist diese Erkenntnis in Deutschland so spät angekommen?

Jürgens: Zum Glück erkranken in Deutschland nur rund 2000 Kinder jedes Jahr neu an Krebs. Das bedeutet aber auch, dass ein Kinderarzt in seinem Berufsleben nur selten mit solchen Fällen in Berührung kommt. Als ich meine Karriere begonnen habe, gab es für die Kinder so gut wie keine Überlebenschancen, weil es keine Behandlungsmöglichkeiten gegeben und auch die gebündelte Expertise gefehlt hat. Erst mit der Zeit und mit sehr viel Investition in die Zukunft – auch mit Hilfe der Deutschen Krebshilfe – hat sich die Situation in Deutschland langsam verbessert und ist international führend und beispielgebend geworden. Auch daran hatten die Fördermaßnahmen der Deutschen Krebshilfe einen entscheidenden Anteil.

„30 Prozent Überlebenschance haben mir gereicht“

Wie hat das partnerschaftliche Verhältnis zwischen Ihnen beiden nach der Diagnose funktioniert?

Kreft: Zunächst mussten wir entscheiden, wie wir vorgehen. Mein Tumor war fast so groß wie eine Literflasche Wasser. Die Chemotherapie alleine hätte nicht gereicht, um ihn zu beseitigen. Mir wurde erklärt, dass man ihn bestrahlen, oder auch operieren kann. Bei einer OP sind die Heilungschancen ungefähr 20 Prozent höher.

Also haben Sie sich dafür entschieden?

Jürgens: Der Orthopäde hat Ann Kristin erklärt, dass sie nach der Operation querschnittsgelähmt sein könnte. Wir Ärzte sind natürlich bemüht, allen Patienten ein Optimum an Heilungschancen zu ermöglichen. Nach Operation und vollständiger Entfernung ist das Risiko eines Rezidivs ein wenig geringer als nach Bestrahlung. Aber Ann Kristin hatte ein bestimmtes Körperbild vor Augen und hat sich vor allem über uneingeschränkte Bewegungsmöglichkeit, wie zum Beispiel das Tanzen und ihre Liebe zum Ballett definiert.

Das war für uns anfangs nicht so leicht, aber wir haben gelernt, dass wir einen gemeinsamen Weg gehen müssen. Ein Patient setzt auf Sicherheit, der andere Patient sagt, dass er nicht so leben will, wie er nach der Operation mit den potenziellen Folgen leben würde. Deshalb nehmen manche Patienten dafür auch geringere Überlebenschancen in Kauf.

Kreft: Ich hatte von einer Querschnittslähmung auch einfach ein konkreteres Bild im Kopf als von Krebs, deshalb wollte ich das nicht. Und die 30 Prozent Überlebenschance, die man mir gegeben hat, haben mir gereicht. Ich hatte immer im Kopf, dass ich das eh schaffe, da brauchte ich nicht nochmal 20 Prozent mehr Chancen.

Zwei Kinder trotz Chemo und Bestrahlung

Wie haben Ihre Eltern das aufgenommen?

Kreft: Für sie war das natürlich nicht einfach, dass ich da meinen eigenen Kopf hatte. Aber ich bin dafür einen anderen Kompromiss eingegangen. Denn durch die Bestrahlung wären meine Eierstöcke zerstört worden. Heribert hatte dann eine Idee, wie man sie retten könnte. Das wollte ich zuerst auch nicht, statt Kindern hätte ich mir später dann einfach Hunde zugelegt. Als 15-Jährige war das für mich nicht das große Thema. Aber zumindest da habe ich mich dann von meinen Eltern überreden lassen.

Jürgens: Wir haben lange mit den Reproduktionsmedizinern beraten und sind dann zur Lösung gekommen, dass man die Eierstöcke an die Seite zu den Rippen verlegen kann. Die Fruchtbarkeit zu erhalten, war damals noch nicht selbstverständlich. Es wurde nicht unkritisch gesehen, den Erhalt der Zeugungsfähigkeit schon mit Kindern und Jugendlichen zu thematisieren. Wir hatten aber schon seinerzeit in der Reproduktionsmedizin an unserem Klinikum einen exzellenten und hochprofessionellen Partner in solchen Fragestellungen.

Und wir haben noch einen positiven Nebeneffekt entdeckt, wenn wir uns um den Erhalt der Zeugungsfähigkeit kümmern. Oft haben wir von den betroffenen Kindern und Jugendlichen gehört: „Ihr scheint ja tatsächlich daran zu glauben, dass ich wieder gesund werden kann, wenn Ihr euch um so etwas kümmert.“

Kreft: Bei mir hat es sich jedenfalls auch langfristig gelohnt. Ich habe zwei Kinder bekommen, auch wenn die Chancen dafür nicht besonders groß waren.

Sie haben während der Behandlung immer wieder Ihren eigenen Kopf durchgesetzt. Was ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Kreft: Ich habe die Vorteile genutzt, die man in dieser Situation hat. Ich bin zum Beispiel feiern gegangen und deshalb schon unter 18 Jahren in den Club gekommen, weil ich meinte, ich sehe nur wegen der durch die Chemo ausgefallenen Haare so jung aus. Meine Eltern mussten viel mitmachen.

Gegen Ende der Bestrahlung habe ich dann auch einen Motorradführerschein gemacht. Ich glaube, mich haben alle für völlig bekloppt gehalten. Aber mit dem Argument, man könnte ja bald sterben, konnte ich viele Dinge bekommen. Und ich habe die Chemo nach elf von zwölf Blöcken dann auch vorzeitig beendet, weil ich das Gefühl hatte, gesund zu sein.

„Ich bewundere die Energie, die Ann Kristin aufgebracht hat“

Sind diese Sachen aus der Sicht eines Mediziners nicht völlig unverständlich?

Jürgens: Ich bewundere die Energie, die Ann Kristin aufgebracht hat. Und das ist ja auch wichtig. Wenn man dafür eine lange Leine lassen muss, ist das in Ordnung.

Aber wurmt es Sie nicht, wenn jemand Entscheidungen trifft, die offensichtlich die Heilungschancen verringern?

Jürgens: Man muss akzeptieren, dass Patienten auch ihren eigenen Weg gehen. Und ob es elf oder zwölf Chemo-Blöcke braucht, um gesund zu werden, lässt sich oft so genau auch nicht sagen.

Es gibt aber auch Fälle, bei denen es anders aussieht. Ungefähr mit Ann Kristin wurde ein Kind eingeliefert, bei dem dann von den Eltern behauptet wurde, es brauche einfach nur Vitamine und eine Chemo sei Körperverletzung. Dafür wurde ich auch öffentlich angegangen. Aber es gibt klare Regeln in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, dass die elterliche Fürsorge natürlich ein sehr hohes Gut ist, aber auch ihre Grenzen hat. Einem Kind mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung dürfen „überwiegende“ Heilungschancen nicht vorenthalten werden. Dies ist in der Regel definiert als eine Heilungschance von über 50 Prozent.

Das ist aber nicht vergleichbar mit den Entscheidungen von Ann Kristin. Sie hat selbst entschieden, aber sie hat sich zu keinem Zeitpunkt der Therapie komplett entzogen.

Was haben Sie denn voneinander gelernt in dieser Zeit?

Jürgens: Das war ein intensives Verhältnis. Diese Partnerschaftlichkeit ist über die Zeit zur Selbstverständlichkeit geworden beim Umgang mit Patienten. Jeder Patient und jede Geschichte gibt einem auch sehr viel zurück.

Kreft: Es geht ja aber nicht immer so gut aus wie bei mir. Gerade auf einer Kinderkrebsstation braucht das sehr viel Stärke. Das beeindruckt mich sehr, damit so gut klarzukommen.

Die gemeinsame Geschichte von Ann Kristin Kreft und Heribert Jürgens ist auch Bestandteil des Buchs „Im Mittelpunkt der Mensch. 50 Jahre Deutsche Krebshilfe“ , geschrieben von der Historikerin und Autorin Dr. Heike Specht.