300 Fachleute schlagen Alarm - Kinderpsychiater über Kita-Kollaps: Jedem fünften Kind geht es nicht gut!
300 Fachleute schlagen Alarm und warnen in einem offenen Brief vor den Folgen der Kitakrise für Kinder. Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort ist einer der Initiatoren und erklärt, wie tiefgreifend die Krise ist und welche Folgen Sie für Kinder, Betreuungspersonal und Familien hat.
In dem offenen Brief heißt es „Das System der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung in Deutschland (...) steht kurz vor dem Kollaps“.
Was bedeutet der Brief zur Kitakrise?
Als Mitunterzeichner dieses offenen Briefes teile ich die Ansichten, die sich unter anderem aus Forschungsaktivitäten einzelner Autorinnen ergeben haben, uneingeschränkt.
Dieser drohende Kollaps bezieht sich auf mehrere Bereiche:
die psychische Gesundheit der Kinder,
die psychische und körperliche Gesundheit der Fachkräfte in den Kitas
und schließlich die Belastung der betroffenen Familien
Ausgangspunkt ist der schlechte Personalschlüssel, der selbst in offiziell gut ausgestatteten Kitas vorgehalten wird. Die Erzieherinnen müssen viel zu viele Kinder betreuen, was sehenden Auges für die Fachkräfte bedeutet, mitzuerleben, wie schlecht die Kinder selbst bei größten Bemühungen versorgt sind.
Die Untersuchungen der Kinder in Kitas durch die Forscherinnengruppe um Frau Professor Dreyer haben gezeigt, dass es mindestens 20 Prozent der kleinen Kinder nicht gut geht. Das ist eine Form der institutionellen Verwahrlosung. Gerade die kleinen Kinder, die noch nicht in der Lage sind, über ihre seelischen Zustände zu sprechen, sind darauf angewiesen, dass sie liebevoll und umfassend gesehen und versorgt sind. Das ist aber nicht der Fall und führt zu psychischen Veränderungen in Form von Rückzug und Introversion und mutet mindestens an wie Vorformen depressiver Symptome.
Auf der Seite der Fachkräfte führt zum einen das Erleben der mangelhaften Versorgung, aber auch der Engpass als solches zu psychischen Belastungen, die schnell mit Symptomen wie Erschöpfung oder auch psychosomatischen Krankheitszeichen einhergehen. Der dann entstehende Krankenstand führt zu einem Kreislauf, der die Ausfälle und die Erschöpfung verstärkt und zu immer ausgeprägteren Gefühlen der Sinnlosigkeit führen.
Die Familien schließlich sind immer wieder mit Ausfällen der Fachkräfte konfrontiert, die kompensiert werden müssen. Darüber hinaus müssen sie mit dem Gefühl leben, dass ihr Kind nicht gut versorgt ist und unter Umständen sehr leidet - ohne dass es dazu eine Alternative gibt.
Insgesamt ein Kreislauf, der für die Schwächsten unserer Gesellschaft zu unzumutbaren Belastungen führt, die sie mit denen teilen, die sie versorgen wollen.
Die Fachleute schreiben, Fachkräfte in Kitas fielen häufig aufgrund von psychischen Erkrankungen aus und das schlage sich auf die psychische Gesundheit der Kinder nieder.
Inwiefern hängen Psyche von Fachkräften mit Psyche der Kinder zusammen?
Kinder reagieren immer auf die Psyche der sie umgebenden Menschen. Das ist keine Frage des Alters oder sprachlicher Fähigkeiten. Auch kleine Kinder erspüren immer, wie es zum Beispiel ihren Eltern geht, in welcher seelischen Verfassung sie sind - auch, wenn diese nicht darüber sprechen. Dasselbe gilt für die Fachkräfte in den Kitas. Wenn diese überfordert, erschöpft oder gar depressiv sind, dann erspüren die betreuten Kinder dies immer.
Das führt entweder zu einer Übertragung dieser Belastung oder zu kindlichen Phantasien, dass sie selber zu belastend sein könnten für die Erzieherinnen. Damit verstärkt sich auf beiden Seiten die Belastung und unausweichliche Zirkel von psychischen Symptomen entstehen.
Wenn die Erzieherinnen merken, wie schlecht es den Kindern geht, strengen sie sich noch mehr an, was die Belastung und Erschöpfung verstärkt, was dann wiederum die Belastung der Kinder erhöht. Ein Kreislauf ohne Aussicht auf Auflösung.
Ist es nachweisbar, dass Kinder in Kitas häufiger gestresst sind und warum wirkt sich Stressbelastung besonders in den ersten drei Jahren negativ auf die kindliche Entwicklung aus?
Videoanalysen haben unter anderem gezeigt, dass 20 Prozent der Kinder in ihrer Mimik und Körpersprache signifikant ausdrucksloser als die anderen Kinder sind. Das erinnert an depressive Menschen, die „hypomimisch“ werden, an Gesichtsausdruck verlieren und überhaupt weniger Energie und Ausdruck zeigen.
Wir wissen aus anderen eigenen Untersuchungen an älteren Kindergartenkindern im Alter zwischen 4 und 8 Jahren, dass etwa 8 Prozent von ihnen (schon vor 20 Jahren) die Kriterien für eine Depression erfüllt haben. Entgegen früherer Annahmen wissen wir heute, dass Depressionen auch im Kindes- und Jugendalter vorkommen, mit einem langsamen Zunahme mit dem Alter bis auf etwa 8 Prozent im Jugendalter. Depressionen können auch vererbt werden, wobei wir heute in der Regel davon ausgehen, dass nicht die Erkrankung, sondern die Anfälligkeit dafür vererbt wird.
Wenn also auch die Kleinsten in den Kitas zu 20 Prozent psychische Auffälligkeiten zeigen, die an Depressionen erinnern, so ist das besonders besorgniserregend, weil wir davon ausgehen müssen, dass die Kinder auf die ungenügenden Betreuungsbedingungen, die sich aus zu wenig und überlastetem Personal zusammensetzen, reagieren. Eigentlich könnte man diesen Missstand schnell beheben, indem die Kitas besser ausgestattet werden.
Je jünger die Kinder sind, desto weniger psychische Mechanismen haben sie, um mit Stressoren anders umzugehen, als sie aufzunehmen. Die Kleinen können nicht darüber sprechen, man kann ihnen keine „Skills“ beibringen und auch alle anderen gängigen Strategien, auf die man professionell mit gestressten und/oder depressiven Menschen reagiert, können hier nicht zum Einsatz kommen.
Wie können Eltern erkennen, ob es ihrem Kind in der Kita gut geht?
Da Kitakinder sich in der Regel über ihr psychisches Befinden noch nicht sprachlich ausdrücken, sind sie darauf angewiesen, dass feinfühlige Eltern sich aufmerksam auf ihr Kind konzentrieren, um Signale wahrzunehmen. Eines der offensichtlicheren ist die Weigerung oder der anhaltende morgendliche Unwille des Kindes, in die Kita gebracht zu werden . Die Aussagen der Erzieherinnen, dass dieser Unwille in der Regel schnell vorübergeht, wenn das Kind erst einmal da ist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Unwille oft ein Ausdruck von Überforderung ist.
Kein Arbeitnehmer würde lange an einem Arbeitsplatz verweilen, wenn dieser mit morgendlichem Unwillen einhergeht. Komischerweise glauben viele Erwachsene, dass man dies den Kleinsten sehr wohl zumuten kann, weil sie sich dem elterlichen Willen am Ende unterordnen. Diese Unterordnung kann aber psychische Veränderungen nicht aufhalten.
Weitere Symptome können körperliche Beschwerden, wie Bauchschmerzen oder Appetitlosigkeit in der Kita sein. Die Umlenkung seelischer Impulse in körperliche Symptome sind im Kindesalter weit verbreitet. Ebenso können die Kinder mit (Ein-)Schlafstörungen oder Trennungsangst sowie einer erhöhten Weinerlichkeit auffallen.
Es geht also um Symptome, die nicht primär zum Kind gehören , Symptome, die keinen anderen Umständen als der Kita zuzuordnen sind. Gefragt ist elterliche Feinfühligkeit und Expertise. Natürlicherweise stehen die kindlichen Symptome manchmal den elterlichen Notwendigkeiten, zum Beispiel ihrer Arbeit (pünktlich) nachzugehen, im Wege. Das kann dazu führen, dass Eltern in ihrer Not die kindlichen Symptome nicht wahrnehmen oder bagatellisieren. Das kann nie im Sinne der psychischen Gesundheit eines Kindes sein, auch wenn es für das Dilemma keine schnellen Lösungen gibt.
Wird seitens der Politik und Gesellschaft zu wenig in unsere Kinder investiert?
Es gibt nach wie vor in unserer Gesellschaft die unausgesprochene Annahme, dass Kinder umso unwichtiger erscheinen, je jünger sie sind. Die Kleinsten werden nicht von Pädagoginnen der frühen Kindheit versorgt, sie sind in viel zu großen Gruppen mit zu wenig Fachpersonal und dieser Trend setzt sich fort, indem Grundschullehrer weniger gelten als Gymnasiallehrer, Kinderärzte schlechter bezahlt werden als Erwachsenenmediziner und vieles andere mehr.
Kinder haben in Deutschland keine Lobby. Sie protestieren nicht, passen sich ungenügenden Umständen an und versuchen, es uns Erwachsenen immer recht zu machen. Im Umkehrschluss verwechseln wir diese Stille der Kinder mit Zufriedenheit.
Die Geringschätzung von Kindheit ist menschheitsimmanent, ihr Bedeutungswandel ist zwar vorhanden, aber immer noch komplett ungenügend. I mmer wieder wird aufmerksamen Eltern Überfürsorglichkeit unterstellt - dahinter steht die Annahme, dass Kinder sich von unreif zu reif, von unmündig zu mündig zu entwickeln haben und sie mit zu viel Aufmerksamkeit verwöhnt und lebensunfähig werden. Das Gegenteil ist der Fall!
Die offene Unterdrückung von Kindern ist weltweit noch längst nicht eingedämmt. Und auch bei uns sind Reste davon immer noch wirksam. Es gibt einfach zu viele Erwachsene in unserer Gesellschaft, die Kinder nur geringschätzen können. Die Randausläufer davon finden wir auch in einer seit vielen Jahren nicht handelnden Politik.
Wir alle müssen uns fragen, was uns eine gesunde Kindheit wert ist. Für die Kinder, aber auch für uns und unsere Gesellschaft.