AfD mit Regierungsauftrag? - Höcke wird jetzt den Anti-Trump geben: „Einen Schwachpunkt kann er ausnutzen“

Björn Höcke, AfD-Spitzenkandidat in Thüringen, nach der Landtagswahl<span class="copyright">Jacob Schröter/dpa</span>
Björn Höcke, AfD-Spitzenkandidat in Thüringen, nach der LandtagswahlJacob Schröter/dpa

Der Thüringer AfD-Spitzenkandidat Björn Höcke sieht nach der Landtagswahl den Regierungsauftrag bei seiner Partei. Politikwissenschaftler Oliver Lembcke glaubt, dass ihm der Wahlsieg wenig bringen wird. Allerdings kann der Rechtsaußen-Politiker eine Schwachstelle ausnutzen.

Nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen wird sichtbar, dass sich grundlegende Veränderungen im deutschen Parteiensystem abspielen. Das wird zu schwierigen Koalitionsverhandlungen führen – und auch die Ampel-Regierung in Berlin weiter in die Krise stürzen. Politikwissenschaftler Oliver Lembcke, der an der Ruhr-Universität Bochum forscht und zuvor an den Universitäten in Erfurt und Jena gearbeitet hat, ordnet die Auswirkungen im Interview ein.

FOCUS online: Herr Lembcke, wie erklären Sie sich diese Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen?

Lembcke: Bei diesen Wahlen ist eine Spaltung offensichtlich geworden, die lange Zeit als nicht so akut angesehen wurde – nämlich eine Spaltung zwischen Osten und Westen. Die Wahl war zum einen eine Wutwahl, zum anderen eine Richtungswahl.

Eine Wutwahl insofern, als die ostdeutsche Bevölkerung deutlich gemacht hat, dass sich der lange Zeit diffuse Vertrauensverlust in die Institutionen nun ganz konkret gegen die Ampel-Koalition im Bund richtet. Es ist an Drastik kaum noch zu überbieten, dass alle drei Parteien des Bündnisses in den beiden Bundesländern um den Einzug in den Landtag zittern mussten. Die Ampel ist quasi über Nacht zu einer rein westdeutschen Regierung geworden, wenn man auf ihre Unterstützer blickt.

Und warum eine Richtungswahl?

Lembcke: Die Ergebnisse sind richtungsweisend, weil gleich zwei Parteien stark abgeschnitten haben, die spezifisch ostdeutsche Interessen vertreten wollen – nämlich die AfD und das BSW. Das BSW ist so etwas wie ein Staubsauger, der die Linke als die vormalige Partei der ostdeutschen Interessenvertretung fast komplett eingesogen hat. In Thüringen ist das sogar gegen den beliebten Ministerpräsidenten Bodo Ramelow gelungen.

Und die AfD ist mittlerweile nicht mehr nur eine rechte Protestpartei, sondern wird als kompetent bei zentralen Themen für die ostdeutsche Bevölkerung wahrgenommen. Zusammen mit der geschwächten CDU ergibt sich so ein Parteiensystem mit drei Polen, das mit dem alten westdeutschen System überhaupt nichts mehr gemeinsam hat. Man hat lange gehofft, dass das ostdeutsche Parteiensystem sich dem westdeutschen angleichen wird – aber vielleicht geschieht eher das Gegenteil.

Effekt von Solingen auf die Wahl ist begrenzt geblieben

Nach dem Anschlag in Solingen war befürchtet worden, dass die AfD von Zuwanderungsdiskussionen noch weiter in die Höhe katapultiert werden könnte. Danach sehen die Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen nicht aus. Warum?

Lembcke: Offenbar war Solingen für viele nur Ausdruck und Bestätigung einer in ihren Augen verfehlten Migrationspolitik. Der Effekt dieses Attentats blieb deswegen begrenzt, weil das Gefühl, dass sich die Politik im Land und im Bund ändern müsse, zuvor bereits ziemlich verbreitet war. Entsprechend hoch fiel die Wahlbeteiligung aus.

Für Thüringen sieht die AfD-Spitze wegen des Wahlsiegs einen klaren Regierungsauftrag. Was bestimmt eigentlich, wer den sogenannten Regierungsauftrag nach einer Wahl hat?

Lembcke: Wer den Regierungsauftrag nach einer Wahl erhält, kann in der Verfassung festgeschrieben sein. Oder es gibt einen sogenannten Formator, der diesen vergibt. In Österreich ist das beispielsweise der Bundespräsident, der einer Partei den Auftrag erteilt. In Deutschland hat sich das nie durchgesetzt, weil immer klar war, dass die Partei mit den meisten Stimmen die Zügel in der Hand hält.

Also wird die AfD bald Koalitionsgespräche führen?

Lembcke: Die AfD kann sich den Regierungsauftrag gerne selbst zuschreiben. Aber es wird sich niemand mit ihr an einen Tisch setzen, um über Koalitionen zu sprechen. Das war allen schon vor der Wahl klar, auch den Wählerinnen und Wählern der AfD. Insofern ist das, was wir jetzt erleben, ein bisschen Theater von Höcke und Co.

Höcke gibt den Demokratietheoretiker – und nutzt einen Schwachpunkt aus

Und wie begründen dann die anderen Parteien ihren Regierungsauftrag?

Lembcke: Es ist fast so, als hätten sich in Thüringen CDU und SPD abgesprochen, weil beide nun von einem Regierungsauftrag der demokratischen Mitte sprechen. Die AfD kann dagegen auch nichts tun, ein Regierungsauftrag entfaltet erst dann seine Wirkung, wenn der auch allgemein anerkannt wird.

Mit welcher Strategie wird Höcke dann die nächsten Tage bestreiten? Wird er wie Trump von einer „geklauten Wahl“ sprechen?

Lembcke: Das glaube ich nicht – im Gegenteil: Höcke wird vermutlich sehr viel über Anstand und die gute demokratische Praxis sprechen. Er wird sich als Demokratietheoretiker geben, der uns erklären will, dass Demokratie prinzipiell nur dann funktionieren kann, wenn jeder mit jedem sprechen kann.

Das ist für die anderen Parteien unangenehm, denn so ganz ist diese Argumentation nicht von der Hand zu weisen. Ein Parteiensystem ist nur dann funktionsfähig, wenn tatsächlich die Meinungen aller Wähler integriert werden und die Politik auf Mehrheiten reagiert. Diesen Schwachpunkt wird Höcke ausnutzen.

Für die CDU werden die Koalitionsverhandlungen mit dem BSW schmerzhaft

Anders als die AfD wird das BSW wohl zur echten Königsmacherin. Wie werden die Koalitionsverhandlungen laufen?

Lembcke: Allgemein gewinnt derjenige die Verhandlungen, der am wenigsten zu verlieren hat – und das ist in diesem Fall ganz klar das BSW. Denn sowohl in Sachsen als auch in Thüringen steht die CDU mit dem Rücken zur Wand. Weil in Sachsen die Linke zwei Direktmandate erringen konnte und damit in den Landtag einzieht, fällt für Michael Kretschmer sogar eine Neuauflage der ungeliebten Kenia-Koalition als Option weg. Und in Thüringen hat Mario Voigt ebenfalls keine anderen Möglichkeiten.

Die SPD als zusätzlich nötiger Koalitionspartner ist angesichts ihrer Wahlergebnisse so verzweifelt, dass sie sich sofort der CDU angedient hat und wahrscheinlich auch für das BSW einfach zu haben ist. Es wird nun für die CDU sehr schmerzhaft, sich mit Altsozialisten zusammenzutun und über Themen wie die Schuldenbremse oder den Krieg in der Ukraine sprechen zu müssen. Das BSW hingegen kann recht einfach sagen, man geht lieber in die Opposition und steht zu seinen Prinzipien.

Könnte es eine Strategie sein, wenn zunächst CDU und SPD sich auf eine Linie verständigen und dann geschlossen auf das BSW zugehen?

Lembcke: Das mag die Reihenfolge sein, wird aber kaum helfen. Die SPD wird da kaum eine Rolle spielen. So wie sie sich andient für eine Koalition, reduziert sie sich nur noch auf eine Funktion, die des Mehrheitsbeschaffers, fast ganz jenseits von Inhalten.

Ohne Minister-Importe aus anderen Bundesländern wird das BSW nicht regieren können

Hat das BSW überhaupt ausreichend Personal und Erfahrung, um Koalitionsverhandlungen zu führen und dann in zwei Ländern Ministerien zu besetzen?

Lembcke: Ich glaube, dass das BSW bei Koalitionsverhandlungen vielleicht sogar einen Vorteil hat, wenn sie mit einer relativ kleinen Gruppe verhandeln. Innerparteilich müssen kaum Positionen zusammengeführt werden, eine einheitliche Position hilft dann.

Anders sieht es bei der Besetzung von Ministerien aus. Ohne Importe aus anderen Bundesländern wird das kaum funktionieren. Wahrscheinlich wird man auch auf Quereinsteiger und Experten setzen müssen. Letztendlich werden aber nur wenige nein sagen, wenn Wagenknecht ihnen einen Minister-Posten andient.

In Sachsen hat Michael Kretschmer einen Wahlsieg errungen. Ist der ein Ausdruck seiner Stärke oder doch eher ein letztes Aufbäumen der demokratischen Mitte?

Lembcke: Die demokratische Mitte ist ausgedünnt. Die CDU hat in Sachsen einige taktische Stimmen von anderen Parteien erhalten, aber ist dennoch weit entfernt von einer absoluten Mehrheit wie einst unter Kurt Biedenkopf. Die CDU erhebt zwar auch im Osten noch den Anspruch einer Volkspartei, so wie Generalsekretär Carsten Linnemann am Wahlabend. Sie leidet aber wie alle Volksparteien unter einer dreifachen Schwindsucht: Vertrauensschwund, Mitgliederschwund, Wählerschwund.

„Wenn die SPD in Brandenburg abstürzt, muss etwas passieren“

Die Ampel-Parteien wurden in beiden Bundesländern deutlich abgestraft. Warum hat es scheinbar die FDP besonders hart getroffen ?

Lembcke: Mit einigen Ausnahmen war die FDP eigentlich nie im Osten wirklich existent. Es gibt Ausnahmen wie einen FDP-Bürgermeister in Jena, aber strukturell spielt die Partei keine Rolle. Das hat auch mit einem Ost-West-Unterschied zu tun: Die Beamtenquote ist im Osten niedriger, die Quote der Ärzte, Apotheker und Anwälte auch, die Erbschaften sind niedriger, die Einkommen sind niedriger und so weiter.

Das sind alles Faktoren, die mit der Wahl zusammenhängen. Unter den Strukturunterschieden hat die FDP mehr als jede andere Partei zu leiden, aber zum Beispiel auch die Grünen haben verloren, prozentual gesehen sogar am meisten.

Wenn die FDP ohnehin mit einem schwachen Abschneiden rechnen musste – wird sie durch das Ergebnis die Koalitionsdebatte in Berlin nochmal befeuern? Oder wird das eher von anderen Parteien ausgehen?

Lembcke: Die FDP wird das Ergebnis wie die anderen auch eingepreist haben. Dennoch ist es brutal, wie die drei Parteien abgestraft wurden.

Für die SPD wird nun Brandenburg entscheidend, wo ihr Ministerpräsident Dietmar Woidke in drei Wochen wiedergewählt werden will. Wenn sie dort ebenfalls abstürzt, muss etwas passieren. Es ist schwach, wie die drei Parteien immer wieder und wieder sagen, sie müssten jetzt besser kommunizieren. Meine Hoffnung, dass sie wirklich lernfähig sind, ist mittlerweile begrenzt.

Lange hätte ich gesagt, dass die Koalition bis 2025 hält. Aber mittlerweile kann ich mir vorstellen, dass die FDP oder vielleicht auch die Grünen sich dazu entschließen, jetzt wirklich etwas anderes zu probieren, nämlich den Ausstieg aus der Koalition.