„Alles muss hoch“ - Der Sachse, der sein halbes Dorf drei Meter anheben will

Olaf Lier, Fachbereichsleiter für das Ordnungswesen in Coswig, will Brockwitz mit 3-Meter-Plan vor Hochwasser retten
Olaf Lier, Fachbereichsleiter für das Ordnungswesen in Coswig, will Brockwitz mit 3-Meter-Plan vor Hochwasser retten

Seit einem Jahrzehnt arbeitet Olaf Lier unermüdlich daran, das sächsische Dorf Brockwitz vor dem nächsten Elb-Hochwasser zu schützen. Sein Plan: das halbe Dorf um drei Meter anzuheben. Trotz Millionenförderung stockt das Projekt jedoch. Die Geschichte eines Mannes zwischen Bürokratie und der Angst vor der nächsten Flut.

Unter Olaf Liers Schuhen knirscht der Kiesel des Ufers. Sein Blick wandert die träge Elbe entlang. Sie glitzert in der Sonne, seichte Wellen plätschern auf dem Wasser. Doch Lier kann sich nicht entspannen. Zu ruhig. Der 62-Jährige weiß, was sich hinter seinem Rücken verbirgt: Brockwitz. Ein Dorf, das oft genug erleben muss, wie der friedliche Fluss zu einer zerstörerischen Naturgewalt anschwillt.

Lier atmet tief ein und kehrt der Elbe den Rücken zu. Seit 35 Jahren beschäftigt sie ihn – beruflich wie privat. Lier leitet das Ordnungswesen von Coswig. Umgeben von Akten ist er aber nicht gern. Der ehemalige DDR-Elektroniker packt lieber an und kümmert sich. Vor allem um den Coswiger Teil Brockwitz.

Die Augenbrauen des hochgewachsenen Mannes ziehen sich zusammen, als er in Richtung des sächsischen Dorfes blickt. 700 Meter liegen zwischen der Elbe und Brockwitz, erzählt Lier und deutet auf eine grüne Wiesenlandschaft, hinter der die ersten Häuser stehen. „2002 hat es uns kalt erwischt. Dann wieder 2006. Ganz schlimm wurde es wieder 2013“, erinnert sich der 62-Jährige. Er macht sich auf den Weg. Er will ins Dorf.

Ein Leben in Furcht

Wie die Elbe gehört auch das Hochwasser zu Brockwitz. Ständig überflutet der Fluss eine Hälfte des Dorfes. Denn die so genannte Niederseite liegt tiefer als der Rest. Das Hochwasser verwüstet die 24 Häusern dort immer wieder. Und wenn das Hochwasser kommt, ist auch Lier sofort zur Stelle.

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Stadt Coswig

Erst zu Weihnachten 2023 hetzte er zwischen den Bewohnern der Niederseite hin und her. Das Wasser stand bis zur Terrassentür der ersten Häuser. Schnell die Keller leeren mit der Wasserwehr, Hab und Gut retten. Von Haus zu Haus gehen, die Lage erkunden. Eine junge Familie, gerade eingezogen, saß sogar mit gepackten Koffern unter dem Weihnachtsbaum, erinnert er sich.

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Kopfschüttelnd geht Lier weiter den Pfad hinauf. „Das muss man sich mal vorstellen: Statt Geschenke auszupacken, bereiten sich die Menschen hier auf Hochwasser vor“, seufzt er. Ein Leben in Furcht. So kann es nicht weitergehen, findet er.

Löcher, Stahl und Pumpen

Lier will Brockwitz retten. Das halbe Dorf soll um bis zu drei Meter angehoben werden. Nach dem Hochwasser 2013 hat er diesen Plan ausgeheckt: „Die ganzen Häuser hier, die Gärten, die Straße“, sagt Lier und umrahmt mit den Fingern das Stück der Gefahrenzone, bewegt sie ruckartig nach oben: „Alles muss hoch.“

Lier stampft weiter den Pfad hinauf. Seit Jahren heben Spezialfirmen ganze Häuser in Deutschland an. Die Methode: Erst werden Löcher in die Bodenplatte gebohrt. Durch sie werden dicke Stahlträger eingebracht, die im Boden verankert werden. Alle Leitungen, egal ob Gas, Wasser oder Strom, werden gekappt und durch flexible Teile ersetzt - und das ganze Haus mit Hydraulikpumpen Zentimeter für Zentimeter angehoben. Die Lücke im Fundament wird mit Magerbeton gefüllt, die Leitungen werden wieder fest angeschlossen. Fertig. Am Ende werden noch Straßen und Gärten aufgeschüttet – und Brockwitz wäre gerettet.

Mittlerweile ist Lier im Dorf angekommen. Mitten auf der schräg-abfallenden Straße bleibt er plötzlich stehen. Lier wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Erst vor kurzem musste er am Herzen operiert werden. Sein Arzt hatte ihm danach geraten, dringend stressfreier zu leben.

„Das ist unsere letzte Chance“

Seit zehn Jahren arbeitet er an dem Hebe-Plan, kämpft sich durch die schier endlose Bürokratie. Mit Machbarkeitsstudien, die bestätigen: Halb Brockwitz um drei Meter anzuheben, ist möglich. Selbst Thomas de Maizière, damals Innenminister unter Kanzlerin Angela Merkel, konnte Lier mit seinem Plan überzeugen.

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Der CDU-Politiker, den er immer ehrfurchtsvoll „Dr. de Mazière“ nennt, hatte sich im Haushaltsausschuss dafür eingesetzt, dass Lier übriggebliebene Gelder jeweils aus Bundes- und Landesmitteln bekommt. Mit Erfolg. Seit fünf Jahren stehen nun 10,5 Millionen für Brockwitz bereit. Seitdem ist jedoch kein Haus auch nur einen Zentimeter gewachsen. Nur der Papierstapel in Liers Büro, der wird immer größer.

Manchmal fragt sich Lier selbst, warum er „nichts Einfacheres“ macht. Nicht einfach aufgibt. Er taxiert wieder die Niederseite. Eine kleine Mauer trennt den Hang vom Rest des Dorfes. Alte DDR-Gebäude, typische Einfamilienhäuser, reihen sich nebeneinander. Manche mit neuen Carports, andere verwittert und verfärbt. Doch eines haben viele Häuser gemeinsam: Kleine Metalltafeln an der Fassade oder Zaun zeigen an, wie hoch das Wasser in den vergangenen Flutjahren stand.

„Das ist unsere letzte Chance, das Dorf vor dem nächsten Hochwasser zu schützen“, ist sich Lier sicher. Müde blickt er zum Himmel. Graue Wolken ziehen über Brockwitz auf. Die Stromtrasse entlang der Elbe sowie der sensible Landschaftsraum verhindere den Bau eines Deiches, sagt Lier. Ein einfacher Wall halte dem nächsten Hochwasser auch nicht stand – „und aufgeben ist auch keine Lösung.“

Bei jedem Hochwasser geht es um die Existenz

30 Meter weiter. In der Feuerwehrhalle, die auch zur Wasserwacht umfunktioniert wurde, trifft Lier den Bewohner Dieter W. (Name geändert, Anm. d. Red.) Der 61-Jährige wartet mit anderen Anwohnern seit Jahren darauf, dass es endlich losgeht mit dem Heben des Hauses. Zwischen den Sandsackmaschinen unterhalten sich die beiden Männer, aber es gibt eigentlich nichts Neues. „Langsam werde ich ungeduldig“, sagt W. und lacht. Lier nickt und verzieht das Gesicht zu einem gequälten Lächeln.

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Dieter W. war von Anfang an begeistert von dem Plan. Seit 1997 wohnt er mit seiner Mutter in dem Haus in der Niederseite. Zweimal wurde das Haus der Familie vom Elbe-Hochwasser beschädigt. Erst 2002, dann schon wieder 2013, damals stand das Wasser 1,40 Meter hoch im Wohnzimmer. Mehrere hunderttausend Euro haben all die Sanierungen gekostet. Obendrauf kommen die 3600 Euro, die er jedes Jahr für seine Elementarversicherung zahlt – und trotzdem nicht alle Kosten von der Versicherung erstattet bekommt. Für Dieter W. geht es bei jedem Hochwasser um seine Existenz.

„Unterm Strich ist es für mich günstiger, wenn ich das Haus anheben lasse“, erklärt W. Draußen fallen die ersten Regentropfen. Wenn die Förderung kommt und es endlich losgeht, müssen die Bewohner nur noch die Neugestaltung von Garten und Hof bezahlen, sagt Lier. Dieter W. schätzt, dass das in seinem Fall zwischen 30.000 und 50.000 Euro kosten wird. Viel Geld, lacht er und schüttelt den Kopf. Aber das ist es ihm wert.

„Ich will endlich in Sicherheit leben und keine Angst um mein Zuhause haben, wenn es regnet. Nicht mehr panisch alle Apps im Auge haben oder in Habachtstellung leben. Ich will nicht ein weiteres Mal meinen Keller ein- und wieder ausräumen müssen“, klagt er. Lier verspricht, dass er auch an Weihnachten wieder bereitstehen würde, um zu helfen. „Aber bis dahin wissen wir hoffentlich mehr“, meint er optimistisch. Draußen prasselt der Regen unaufhörlich weiter auf das Dach des Hauses.

„Wenn wir wenigstens fünf Häuser anheben...“

Lier verabschiedet sich, er muss zurück ins Rathaus. Wann die bürokratische Tortur ein Ende hat, weiß der Fachbereichsleiter nicht. Langsam verzweifle er an der Bürokratie, gibt Lier zu. Unzählige Fragen und Rückfragen, Änderungen der Änderungsanträge der Förderanträge Es nimmt kein Ende.

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Viele Bewohner, vor allem die älteren, haben das Projekt längst aufgegeben. Nur noch 16 von 24 Häusern wollen angehoben werden, der Rest nicht mehr. Sie wollen sich den Stress nicht mehr antun oder bekommen keine Kredite mehr. „Die hoffen einfach, dass kein Hochwasser mehr kommt, bevor sie sterben.“

Frustriert starrt er auf den Boden. „Wenn wir wenigstens fünf Häuser anheben, sind es fünf weniger, die ich nach dem nächsten Mal ausräumen muss“, erklärt er. Lier glaubt, dass vor der langen Sommerpause noch ein Änderungswunsch oder weitere Fragen zum Förderantrag von der Bundesbehörde kommen werden.

„Noch habe ich Mut, noch habe ich Hoffnung“, sagt Lier nach einem langen Atemzug. Er steht vor seinem Auto. Wie lange er noch durchhalten kann, weiß er selbst nicht. Lier setzt sich hinters Steuer. Es gibt noch etwas zu tun, bevor die nächste Katastrophe kommt.

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