Analyse von Carsten Fiedler - Wie der „Anti-Scholz“-Woidke einen Last-Minute-Sieg gegen die AfD holte
Als Dietmar Woidke seinen Wahltriumph gegen die AfD in Potsdam feierte, war Olaf Scholz 6400 Kilometer weit weg. Der Kanzler hielt sich beim Zukunftsgipfel der Vereinten Nationen in New York auf, als die ersten Hochrechnungen den Last-Minute-Triumph des SPD-Amtsinhabers in Brandenburg bestätigten. Es gibt kaum ein treffenderes Bild dafür, was da am Sonntagabend passiert ist.
Den SPD-Erfolg bei der dritten Ost-Landtagswahl in diesem Herbst kann man ein „Woidke-Wunder“ nennen. Mit dem Einfluss und der Hilfe des sozialdemokratischen Kanzlers hat er nichts zu tun. Eher im Gegenteil.
„Wir haben eine Aufholjagd hingelegt, wie es sie in der Geschichte unseres Landes noch niemals gegeben hat“, jubelte Woidke bei der SPD-Wahlparty. Sein größtes Ziel sei es gewesen, „zu verhindern, dass die Brandenburger Fahne keine großen braunen Flecken kriegt“.
Worte des Dankes an die Parteizentrale waren erstmal nicht vorgesehen. In Berlin gratulierte SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert denn auch artig, ohne den Kanzler zu nennen: „Der bundespolitische Wind ist gerade schwierig.“ Die furiose Aufholjagd habe „mit einer guten Leistungsbilanz vor Ort, einem gestandenen Ministerpräsidenten und auch dem persönlichen Zutrauen in ihn zu tun.“
SPD lag mehrere Prozentpunkte zurück
Die Wahl in Brandenburg, sie hatte eine hohe symbolische Bedeutung. Wäre der seit 2013 amtierende Ministerpräsident Woidke mit seiner SPD hinter der AfD gelandet – die Sozialdemokraten wären zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung nicht mehr stärkste Kraft im Land gewesen.
Vor einigen Wochen lag die SPD in Brandenburg noch bis zu fünf Prozentpunkte hinter der AfD. Dann startete Woidke seine sensationelle Aufholjagd. Mit einer Alles-oder-Nichts-Taktik, bei der für den unbeliebten Kanzler keine Rolle vorgesehen war. Obwohl dessen Bundestagswahlkreis ja in Brandenburg (Potsdam/Mittelmark II/Teltow-Fläming II) liegt.
„Ich oder die“, „Rechtsruck oder Regierung der Mitte“, „AfD oder Dietmar Woidke“: Mit diesen Losungen schaffte es Woidke, der AfD im letzten Moment noch den Sieg zu entreißen. Den Wahlkampf schnitt der Brandenburger Regierungschef komplett auf sich zu. Auch seine Drohung, nicht noch einmal antreten zu wollen, sollte die SPD nur auf Platz zwei landen, verfehlte im Schlussspurt ihre Wirkung nicht. All-in gepokert, alles riskiert und viel gewonnen. So hat Woidke die Wahl nicht mit Scholz geholt, sondern trotz der Unbeliebtheit des Kanzlers und seiner Ampel.
Als Wahlkampfhelfer war der Kanzler unerwünscht. Auftritte mit Olaf Scholz lehnte Woidke ab – mit der Begründung, er sei froh, wenn er mal nichts von der Ampel in Berlin höre. Scholz machte darum nur als einfacher Bundestagsabgeordneter in Brandenburg Wahlkampf, besuchte Firmen, eine Bäckerei und eine Weinschänke.
Wirtschaftlich steht das Land im Vergleich ganz gut da
Seit elf Jahren ist Woidke Ministerpräsident, seit 30 Jahren im Landtag. 2013 hatte er das Amt des Regierungschefs von Matthias Platzeck übernommen. Der 62-Jährige zählt damit zu den vier dienstältesten Ministerpräsidenten in Deutschland und war zuletzt der mit Abstand bekannteste Landespolitiker. Sein größter Coup: die Ansiedlung des Elektroautobauers Tesla in Grünheide, die 2019 nach der Landtagswahl verkündet wurde. Anders als sonst im Osten ziehen mehr Menschen nach Brandenburg als wegziehen. Und auch wirtschaftlich steht das Land im Vergleich ganz gut da.
Woidke betont gern seine märkische Zurückhaltung, spricht aber mit Schmunzeln über ein „andalusisches Temperament“ der Brandenburger, das manchmal auch in ihm schlummere. Vielleicht war das auch Vorbild bei dem Ziel, Brandenburg mit Tempo umzubauen: vom Kohle-Land zum Erneuerbare-Energien-Land. Beim Wirtschaftswachstum lag Brandenburg im vergangenen Jahr unter den Ostländern auf Platz zwei hinter Mecklenburg-Vorpommern.
Woidke wird die Debatte um Scholz nicht beenden
Vor der Wahl hatte Woidke angekündigt, dass er nur dann weiter Regierungsverantwortung tragen will, wenn die SPD stärkste Kraft wird – das hat er nun geschafft. Die Regierungsbildung dürfte aber kompliziert werden. Am Abend zeichnete sich ab, dass die Grünen, bisheriger Regierungspartner in der rot-schwarz-grünen „Keniakoalition“, aus dem Landtag fliegen. Dann bleiben eine sehr wacklige große Koalition mit der CDU, ein Bündnis mit dem BSW oder eine „Brombeerkoalition“ mit CDU und BSW als Optionen. Woidke hatte sich vor der Wahl nicht zu Wunschpartnern geäußert. Das BSW hatte im Wahlkampf signalisiert, nicht um jeden Preis mitregieren zu wollen.
Sicher ist: Auch wenn der SPD-Kämpfer Woidke im letzten Moment noch vor der AfD gelandet ist, wird die Debatte um die Schwäche der Ampel in Berlin, um die Vertrauensfrage und vorgezogene Neuwahlen, den Kanzler schnell wieder einholen, wenn er aus New York zurückgekehrt ist. Die Stimmen, die in Verteidigungsminister Boris Pistorius den besseren Kanzlerkandidaten der SPD sehen, werden parteiintern garantiert nicht weniger werden.
Und auch Friedrich Merz wird die Forderung nach Neuwahlen weiter erheben. Als frischgebackener Kanzlerkandidat sieht er die Union für einen vorzeitigen Regierungswechsel gewappnet. Zudem droht beim Bundeshaushalt neuer Streit zwischen SPD und den Liberalen.
Und überhaupt, die FDP : Die Gefahr für Scholz, dass Christian Lindner nach der erneuten Pulverisierung seiner Partei, dieses Mal in Brandenburg, die Notbremse zieht und die Ampel zum Platzen bringt, ist greifbar. Auch nach dem Erfolg seines Parteigenossen Woidke bleibt Olaf Scholz ein Kanzler auf Bewährung.