Analyse vom China-Versteher - Uralte Tagebücher eines China-Insiders sorgen für Aufregung – nicht nur bei Xi

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Kauft viel Gold: China um Staatspräsident Xi Jinping.IMAGO/Xinhua

Li Rui, der frühere Privatsekretär Mao Zedongs, wusste, was hinter den Kulissen des chinesischen Machtapparats vor sich geht. Seine Tagebücher werden jetzt zum Streitobjekt. Bleiben sie an der Standford University oder bekommt Peking die Chance, die Dokumente zu vernichten?

Nur wenige können es in China noch wagen, Machthaber Xi Jinping die Stirn zu bieten. Seit er 2012 ins Amt gewählt wurde, hat er seine Kritiker und politischen Opponenten kalt gestellt und die Freiheitsräume seiner 1,4 Milliarden Untertanen massiv eingeschränkt.

Wer gegen Xis Regeln verstößt, dem blüht mittlerweile sogar Punktabzug von einem so genannten „Sozialen Kreditsystem". Es soll alle Chinesen erfassen und bei Vergehen, zu denen unter anderem Ungehorsam gegenüber den Weisungen der Kommunistischen Partei gehört, disziplinieren.

Den Machthunger Xi Jinpings hat ein Mann namens Li Rui angeprangert. In der freien Welt ist dieser Mann ein Unbekannter, er war allerdings kein geringerer als einer der Privatsekretäre Mao Zedongs, des Gründers des kommunistischen China.

Li kritisiert Mao in seinen Aufzeichnungen massiv

In seinen Tagebüchern und Notizen hat der 2019 im hohen Alter von 101 Jahren verstorbene Li Rui alle Höhen und Tiefen der Kommunistischen Partei und ihrer Führung seit der Mao-Ära festgehalten und kommentiert.

In seinen Aufzeichnungen kritisiert er zum Beispiel Mao massiv, vor allem für die Hungersnot, die er über die Volksrepublik gebracht hat. Beim "Großen Sprung nach Vorne", wie die fehlgeleitete Agrarpolitik Maos genannt wurde, sollen viele Millionen Menschen verhungert sein.

Auch die Kulturevolution kritisiert Li. In dieser Ära starben ebenfalls Tausende und viele Quellen und Zeugnisse der alten chinesischen Hochkultur, Klosterbibliotheken und Tempel, wurden von den Maoisten unwiederbringlich zerstört.

Xi Jinping, der sich selbst als neuen Mao begreift, hat jede kritische Betrachtung des Staatsgründers untersagt. Was vor Xis Amtsantritt noch möglich war, nämlich ein kritischer Blick auf die Gründungszeit der Volksrepublik, ist aus Schulbüchern und von universitären Lehrangeboten verschwunden.

Auch über Massaker darf in China nicht gesprochen werden

Auch Deng Xiaoping, den Nachfolger Maos, kritisiert Li scharf. Deng, der vor allem mit der kapitalistischen Öffnung Chinas nach Maos Tod und dem wirtschaftlichen Erfolg des Landes in Verbindung gebracht wird, hat seinerseits den Schießbefehl auf dem Platz des Himmlischen Friedens am 4. Juni 1989 gegeben.

Bei dem Massaker haben chinesische Soldaten Tausende unbewaffnete Studierende getötet, die friedlich für mehr Freiheit und Demokratie demonstriert haben.

Li, der das Geschehen von seiner Wohnung aus beobachten konnte, schreibt, dass die Soldaten wahllos in die Menge geschossen hätten und schmäht Deng für seinen Schießbefehl.

Auch darüber darf in Xis China nicht mehr gesprochen werden (Anders als Mao verabscheut Xi Deng, den er so gut wie ganz aus dem öffentlichen Gedächtnis tilgen will).

Lis Tochter brachte die Tagebücher nach Stanford

Und seit die Volksrepublik das semi-autonome Hongkong vertragswidrig völlig übernommen und die Demokratie dort zerstört hat, darf auch in der weltgewandten Handelsmetropole niemand mehr über das Massaker der Kommunistischen Partei 1989 sprechen. Sonst drohen hohe Haftstrafen.

Die wenigen Beispiele belegen, warum Li Ruis Nachlass politischer Sprengstoff ist, den Peking gerne entschärfen würde. Dieser Nachlass, vierzig Kisten, wurde nach dem Tod des Privatsekretärs an das Hoover Institut der Universität Stanford übergeben.

An dieser Universität gibt es bereits viele Quellen zur chinesischen Zeitgeschichte, die einen authentischen, echten Blick auf die ersten Jahrzehnte des kommunistischen China erlauben und nicht der Geschichtsklitterung Xi Jinpings zum Opfer gefallen sind.

Nach Stanford gebracht hat die Tagebücher Lis Tochter, die die Schriftstücke auch aufbewahrt hatte. Doch nun fordert die Witwe Lis, dass die Tagebücher nach China zurück gebracht werden.

Xi: Lücke in Schul- und Universitätsbildung

Hinter der Forderung der Witwe vermutet die Universität die Kommunistische Partei Chinas, die eine kritische Aufarbeitung dessen, was der Zeitzeuge geschrieben hat, verhindern will.

Nicht nur Mao und Deng, auch Xi Jinping selber soll auf diese Weise geschont werden. Denn ihn hält Li Rui für den ungebildetsten Staatslenker, den das kommunistische China je hatte.

In Xi-Biographien findet sich stets der Verweis auf die Lücke in Xis Schul- und Universitätsbildung, von der der Machthaber aber zu erkennen geben will, sie später durch die Lektüre von Klassikern (chinesische und westliche) geschlossen zu haben.

Weitere Enthüllungen könnten Xis Macht gefährden

Der Prozess zwischen der Universität Stanford und den chinesischen Anwälten, die die mittlerweile greise Witwe vertreten, soll Presseberichten zufolge mittlerweile Millionen US-Dollar gekostet haben.

Nun soll er in die entscheidende Runde gehen. Dem scharfzüngigen Li Riu bereitete die Partei nach seinem Tod ein Staatsbegräbnis, dem nicht wenige Kameraden mit geballter Faust in der Tasche beigewohnt haben dürften.

Dass Li trotz seiner Kritik im sechsten Jahr der Ägide Xi Jinpings mit Fanfaren beigesetzt wurde, zeigt, dass er einer der wenigen Kritiker des gegenwärtigen Chinas geblieben ist, den die Partei und selbst Xi Jinping nicht übergehen durften, ohne das Volk zu verärgern.

Weitere Enthüllungen könnten Xis Machtbasis gefährden. Der Nachlass darf auf keinen Fall in die Hände Pekings fallen.