Eine Analyse von Ulrich Reitz - 1982 hatte SPD-Kanzler nach FDP-Aus keine Chance - heute gäbe es eine Alternative
Die FDP überlegt, ob sie die Ampel verlässt. Erinnerungen werden wach – an den ersten liberalen Machtwechsel 1982, der die Liberalen fast das politische Leben gekostet hätte. Aber es könnte auch ganz anders kommen.
Am 1. Oktober 1982 verfolgt der greise Ernst Jünger, ein guter Freund Helmut Kohls, das Polit-Drama vor dem Fernseher. Nach dem aus dem Bundestag live übertragenen Misstrauensvotum gegen Kanzler Helmut Schmidt hält der nationalkonservative Autor von „In Stahlgewittern“ in seinem Tagebuch lakonisch fest: „Drei Uhr nachmittags. Habemus papam – ein Helmut geht, ein Helmut kommt.“
Es ist der erste „Machtwechsel“ von Regierung und Opposition während einer laufenden Wahlperiode. Hans-Dietrich Genscher hat, mitten in einer großen Wirtschaftskrise und mitten im Streit um die Nachrüstung mit amerikanischen Raketen, seine FDP-Minister aus dem Kabinett des sozialdemokratischen Bundeskanzlers abgezogen. Kurz darauf spricht der Deutsche Bundestag Schmidt sein Misstrauen aus und wählt gleichzeitig CDU-Politiker Kohl zum neuen Regierungschef.
Mit diesem Vertrauen ausgestattet hätte Kohl zwei Jahre Kanzler bleiben können, um sich erst dann seinen Deutschen in einer Wahl zu stellen. Er wollte es anders. Die Bürger sollten seine „geistig-moralische Wende“ mit einer Abstimmung absegnen. Am 3. März 1983 wurde gewählt, nachdem Kohl eine Vertrauensfrage „fingiert“ verloren hatte. Bundespräsident Carl Carstens hatte den Trick mitgemacht und Neuwahlen ermöglicht. Er hätte auch Nein sagen können, Carstens war ein penibler Jurist, er kannte seine Befugnisse.
1982 ist zur Referenzgröße für einen Regierungswechsel geworden
Die Zeit zwischen September 1982, der letzten Phase der sozialliberalen Koalition, und der Neuwahl ein halbes Jahr später, gehört zu den spannendsten der deutschen Kanzler- und Parlamentsgeschichte. Und längst ist diese Zeit wieder zur Referenzgröße für einen Regierungswechsel geworden, nicht zuletzt einen, der durch den kleineren Partner ausgelöst wurde: die FDP .
Die hätte schon damals fast mit dem politischen Leben dafür bezahlt: Sowohl Helmut Schmidt als auch CSU-Politiker Franz Josef Strauß hatten sich vorgenommen, der FDP das Lebenslicht auszublasen. Schmidt aus Rache für den (angeblichen) liberalen „Verrat“ an ihm, er wollte die FDP „wegharken“.
Strauß, weil er die Liberalen für notorisch unzuverlässig und prinzipiell überflüssig hielt. Und gleichfalls aus Rache: Die Liberalen hatten dem Unions-Kanzlerkandidaten 1980 klargemacht, dass sie „niemals“ mit ihm koalieren würden. Dies schon deshalb, weil Strauß ohnehin für Deutschland ein Mehrheitswahlrecht wollte.
Die Geschichte der Bundesrepublik hätte eine andere sein können
Hätte er sich Anfang der achtziger Jahre damit durchgesetzt, dann wären die Geschicke der Bundesrepublik ganz anders fortgesetzt worden: ohne FDP, ohne Grüne, ohne Linkspartei, ohne AfD, ohne das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Vielleicht wäre es sogar eine bessere Welt gewesen.
Aber Kohl verhinderte, dass Strauß sich durchsetzte, er hatte Hans-Dietrich Genscher sein Wort gegeben – und zu diesem Zweck, ein kleiner interner CSU-Verrat, den christsozialen Landesgruppenvorsitzenden Friedrich Zimmermann an seine Seite geholt. Zimmermann, nicht nur Strauß-loyal, sondern auch schlau und sehr verschlagen, erklärte seinem großen Vorsitzenden scheinjovial, man könne der FDP doch jetzt, nachdem sie das Land von Schmidt befreit habe, nicht „die Schlinge um den Hals“ legen. Also blieb sie am Leben, die nunmehr „gewendete“ FDP.
Nach dem Koalitionsbruch würde erst einmal nichts passieren
Frage also, aus aktuellem Anlass: Was würde passieren, wenn Christian Lindner die FDP-Minister aus dem Kabinett von Olaf Scholz abziehen würde? Antwort: Erst einmal – nichts.
Das Wort vom „konstruktiven Misstrauensvotum“ haben sich Juristen ausgedacht. Es ist ein blödes Wort. Im Grunde eine spitzfindige Sprachspielerei: Was an einem Akt des Misstrauens wäre schon konstruktiv? Jedenfalls: Würde nun Friedrich Merz im Bundestag, der Stimmen der FDP für sich als Bundeskanzler gewiss, ein konstruktives Misstrauensvotum beantragen – nichts würde passieren.
Oder vielmehr doch: Merz würde scheitern, denn die Stimmen von Union und FDP würden nicht ausreichen, um Merz als Nachfolger von Scholz zum Kanzler zu machen. Ohne die Grünen ginge es nicht. Weshalb sollten ausgerechnet die „springen“? Und die Stimmen der AfD sind in der Union unerwünscht, eine Alternative gibt es nicht.
Der SPD-Chef probiert die alte Verratslegende aus
Was allerdings heute so wäre wie damals: Sowohl die SPD als auch die CSU würden wohl den Versuch unternehmen, der FDP das Lebenslicht auszublasen. Olaf Scholz aus Rache, Markus Söder, weil der Weißwurst-Fan die FDP so wenig mag wie Kichererbsen-Püree.
SPD-Chef Lars Klingbeil probiert schon einmal die alte Verratslegende von Helmut Schmidt aus, diesmal im staatspolitischen Gewand: „Ich hoffe, dass niemand auf die Idee kommt, vor seiner Verantwortung davonzulaufen.“
Und Markus Söder setzt schon einmal die Geschichtsklitterung in die Welt, die FDP sei in die falsche Koalition gegangen – nachdem er den Kandidaten der „richtigen“ Koalition, den damaligen CDU-Chef Armin Laschet, höchstpersönlich unmöglich gemacht hatte (beide haben das nicht vergessen).
Immer weniger Menschen glauben, dass es die FDP braucht
Es gibt viele Parallelen zwischen heute und damals: die Wirtschaftskrise, die zurückkehrende Arbeitslosigkeit, die sich ausbreitende Sinnkrise der FDP, eine dysfunktional gewordene Koalition, grassierende Unzufriedenheit und Zukunftsangst in der Bevölkerung, eine große außenpolitische Krise.
Aber abgesehen davon, dass Schmidt ein geachteter Kanzler war, es gibt mindestens einen weiteren großen Unterschied: Immer weniger Menschen glauben, dass es die FDP noch braucht. Deren Zustimmung ist bundesweit mittlerweile auf unter fünf Prozent gesunken, bisweilen rangieren sie unter vier.
Diese vier, das ist die eigentlich gefährliche Zahl, denn die ist lebensbedrohlich: Knapp fünf in Umfragen, das lässt sich noch nutzen für eine Mobilisierungsoffensive, für den Schluss-Spurt bei der Bundestagswahl. Knapp vier, das ist die Vergeblichkeitsgrenze: Dann fragen sich Wähler, ob sie ihre Stimme „verschenken“, weil die nicht mehr wirksam, wird.
In der Union redet man lieber über die Grünen
Solche Sachen werden gerade nicht nur in der FDP angstvoll diskutiert, sondern – deutlich kühler – auch in der Union. Auch, wenn es „Leihstimmen“ nicht gibt, weil man Wahlstimmen nicht an eine andere Partei verleihen kann, aber: eine „Leihstimmenkampagne“ der Union für eine liberale Partei, deren Überleben nicht sicher ist?
Das steckt dahinter, wenn Friedrich Merz den Liberalen nahelegt, wenn, dann jetzt zu „springen“. Tatsächlich reden sie auch in der Union kaum noch über die Liberalen. Hauptthema vertraulicher Erörterungen ist die hochkontroverse Frage, wie man sich zu den Grünen verhalten sollte. Die kleinere der beiden Unionsparteien thematisiert das öffentlich, und Markus Söder wird dabei immer lauter und immer unwirscher.
Was dem CSU-Chef Strauß die Liberalen waren, sind nach deren zunehmender Bedeutungslosigkeit dem CSU-Chef Söder die Grünen. Und so, wie Strauß einst die FDP aus einer Koalition mit der Union heraushalten wollte, so will es jetzt Söder die Grünen heraushalten. Manchmal wiederholt sich Geschichte eben doch.
Gegen Kohl und Strauß sind Merz und Söder Wähler-Leichtgewichte
Und auch wieder nicht. Denn: Strauß hatte einen plausiblen Grund, die Liberalen plattzumachen – und das war die Stärke der Union. Kohl brachte es als Kanzler und Kanzlerkandidat der Union bei der 83er-Wahl auf 48,8 Prozent – wenn er gewollt hätte, die Union hätte die absolute Mehrheit geschafft und wäre auf die FDP nicht angewiesen gewesen.
Wie anders sieht es heute aus: Die Union ist, Stand heute, satte 15 Prozent schwächer als damals, die CSU inklusive. Gegen Kohl und Strauß sind Merz und Söder Wähler-Leichtgewichte. Ergo wird die Union definitiv einen Koalitionspartner brauchen, womöglich auch zwei. Vielleicht wird die FDP also doch noch gebraucht, auch wenn darüber heute so gut wie niemand mehr redet.
Zumal im anderen Lager dem amtierenden Kanzler gerade eine alternative Machtperspektive zuwächst, eine, bei welcher der Sozialdemokrat nicht einmal seinen christdemokratischen Herausforderer schlagen müsste. Das war übrigens auch 1983 so, auch wenn das damals die meisten Sozialdemokraten noch nicht so sahen. Denn 1983, da kamen zum ersten Mal die Grünen in den Bundestag.
Kommt die lupenrein linkssoziale Regierung?
Und auch heute gibt es wieder so ein parteipolitisches Startup, wie damals die Grünen waren. Und dieser Newcomer ist heute nicht nur aus dem Stand weitaus stärker als die Grünen damals, sondern auch stärker als die FDP heute.
Mit anderen Worten, und für alle, die glauben, die Bundestagswahl wäre schon so gut wie gelaufen – für Friedrich Merz: Wie wäre es mit einer lupenrein linkssozialen Regierung, Lindner-frei, Merz-frei, aber mit anti-woken Einsprengseln? Also einer aus: Olaf Scholz, Robert Habeck und Sahra Wagenknecht?