Analyse von Ulrich Reitz - Rente, Asyl, Harris: Hier erklärt Merz, was er als Kanzler vorhat
Friedrich Merz erzählt, wie er „tickt“ und was er vorhat. Am Ende sollen die Deutschen „wieder stolz auf unser Land“ sein können. Eine Begegnung.
Bundestag, Generaldebatte zum Bundeshaushalt. Der Bundeskanzler, für einen Regierungschef völlig unüblich, geht den Oppositionsführer voll an. Olaf Scholz wird persönlich, es ist zwar ungewöhnlich für einen Kanzler, aber es ist auch nicht das erste Mal.
Scholz hat diese - für ihn neue - Tonlage getestet, vor den eigenen Genossen, auch schon in einem Interview. Und nun macht er es im Hohen Haus. Die Union hat gerade den Migrationsgipfel beendet, nachdem die Bundesregierung versucht hat, die Opposition mit einem falschen Versprechen über den Tisch zu ziehen.
Nachdem der Union klargeworden ist, dass von der Ampel eine „Asylwende“ nicht zu erwarten ist, dass sie, anders als zuvor in Telefonaten angekündigt, nicht bereit ist, Migranten, die aus sichereren Staaten kommen und jetzt nach Deutschland wollen, direkt an der Grenze zurückweisen, stehen die Unionsleute in der Asyl-Runde auf und gehen.
Scholz greift Merz an
Daraus macht die Ampel hinterher, die Union habe den Migrantengipfel „platzen lassen“. Es ist Teil einer Inszenierung, deren Haupttaktik auf eine Schuldumkehr zielt, auf das, was man die Umkehr von Täter- und Opferrolle nennt – die Ampel will, vor allem wegen der Grünen und dem linken Teil der SPD, keine durchgreifende Änderung ihrer Asylpolitik machen, aber: die Union soll schuld sein.
Dieser Dramaturgie folgt nun Scholz im Bundestag. Für ihn, der angeschlagen ist nach noch nicht einmal drei Jahren im Amt, so wie noch kein Bundeskanzler vor ihm, geht es nun darum, die eigenen Genossen von seinen Kämpferqualitäten zu überzeugen.
Scholz will demonstrieren, dass er noch der Richtige ist, um für die SPD als amtierender Kanzler und Spitzenkandidat in die Bundestagswahl zu ziehen. Deshalb jetzt der Angriff auf Merz.
Scholz wird persönlich, wie man persönlicher als Spitzenpolitiker nicht werden kann: „Führung sieht anders aus. Charakter, Ehrlichkeit und Festigkeit sind für dieses Land gefragt.“ Das ist durchaus gewagt.
Merz bleibt in der Rolle des souveränen Staatsmanns
In der Opposition, insbesondere der von links, haben viele Zweifel an der Charakterfestigkeit des Kanzlers – besonders nach dessen „Vergesslichkeit“ in der Cum-Ex-Affäre und dem Schlingerkurs bei der militärischen Unterstützung der Ukraine.
Dort hat Scholz es lange nicht vermocht, eine eigene Strategie zu entwerfen. Stattdessen hat er sich hinter dem US-Präsidenten Joe Biden mehr oder weniger versteckt.
Frage also von Focus online an Friedrich Merz: „Herr Merz, Olaf Scholz hat Ihnen im Bundestag die nötigen charakterlichen Eigenschaften abgesprochen, um Bundeskanzler zu werden. Wie gehen Sie damit um?“
Merz bleibt in der Rolle des souveränen Staatsmanns, er antwortet: „Ich stelle mich darauf ein, dass das der Vorgeschmack auf das ist, was wir im nächsten Jahr erleben werden, wenn gewählt wird. Wir aber werden sachlich bleiben und nicht persönlich werden.“
Wüst gab bekannt, dass er als K-Kandidat nicht zur Verfügung steht
Wenige Stunden, bevor Merz zu einem Auftritt nach Essen gefahren ist, zum „Politischen Forum Ruhr“, das der frühere Anwalt von Helmut Kohl, Stephan Holthoff-Pförtner seit 30 Jahren organisiert, hat NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst offiziell bekanntgegeben, dass er als Kanzlerkandidat der Union nicht zur Verfügung steht.
Und sich und den mitgliederstärksten Landesverband der CDU hinter Merz eingereiht. Der sei „einer von uns“ – Merz stammt aus dem Sauerland, wo er nach wie vor wohnt.
Bemerkenswert an diesem Auftritt von Wüst: ihn hatte niemand offiziell je gefragt, ob er denn Kanzlerkandidat werden wolle. Wüst hatte sich selbst ins Gespräch gebracht. Und durch den „Verzicht“ – auf ein Amt, das er nie hatte – hat er sich nun als Nummer Zwei hinter Merz platziert.
Deswegen gibt es nun zwei Sieger in der CDU: Den Kanzlerkandidaten der CDU – genauer: des CDU-Teils der Union – und dessen Ersatzreserve Nummer Eins, sagen wir es so: Sollte Merz vor den Baum fahren, wäre sein „natürlicher“ Nachfolger innerhalb der CDU jetzt Wüst.
„Den Grünen widerspreche ich“
Zurück zu Merz. Focus online fragt ihn, wie er mit dem Vorwurf der Grünen umgehe, über die Migrationspolitik mit den Grenz-Zurückweisungen das europapolitische Vermächtnis von Konrad Adenauer, Helmut Kohl und Angela Merkel zu verraten. Merz:
„Den Grünen widerspreche ich. Europa wird nicht scheitern, wenn wir jetzt mal Grenzen kontrollieren.“ Dann schiebt der CDU-Chef nach: „Und die Grünen wissen das auch.“ Aus der Sicht von Merz ist das alles ein taktisches Spiel, inszeniert als Entlastungsangriff auf ihn – um zu verschleiern, dass man selbst eine Asylwende nicht will.
Allerdings: Adenauer und Kohl hatten ein gemeinsam: sie teilten eine Vision – die Entwicklung Europas von einer Ansammlung von nur wirtschaftlich verbundenen Staaten zu einem föderalen Gebilde. Zu einem „Bundesstaat Europa“, darin vergleichbar mit den Vereinigten Staaten von Amerika.
Das ist eine Vision, die Merz nicht teilt. Merz ist Realist, er würde sich als Kanzler auf das Machbare konzentrieren. Ein Bundesstaat Europa setzte eine Änderung der europäischen Verträge voraus, und darüber müsste in jedem einzelnen Staat befunden werden, zum Teil in Volksabstimmungen. „Dafür gibt es keine Mehrheit.“
Merz orientiert sich an einem Plan von Wolfgang Schäuble
Merz Europa-Idee orientiert sich an einem Plan, den Wolfgang Schäuble und der glühende Europa-Enthusiast Karl Lamers vor 30 Jahren entworfen haben. Europa als Idee der „konzentrischen Kreise“.
Vereinfacht gesagt: Die Staaten, die wollen, gehen voran. Die anderen folgen, wenn sie wollen. So war es auch bei der Währungsunion. „Intergouvernemental, nicht vollständige Integration“, so formuliert es Merz.
In der Außenpolitik würde ein Kanzler Merz es ganz anderes machen als die amtierende Außenministerin Annalena Baerbock. Die „wertegeleitete Außenpolitik“ der Grünen würde er ersetzen durch eine Außenpolitik „der Interessen“.
Auf Belehrungen anderer Staaten, wie es Baerbock etwa gegenüber China gemacht hat, würde Merz ganz verzichten – darin in der Tradition der Außenpolitik Helmut Kohls. Merz findet es schwierig, wenn ausgerechnet deutsche Staatsmänner ihren Kollegen in anderen Staaten erklären wollten, wie die die Welt zu sehen hätten. Das ist eine Rolle, die Merz für Deutschland, gerade nach seiner Geschichte, für unangemessen hält.
Merz bleibt sich in der Wirtschaftspolitik treu
Merz glaubt im Übrigen nicht, dass es für Deutschland einen großen Unterschied macht, ob Donald Trump Anfang November die US-Wahl gewinnt oder Kamal Harris.
Der eine sei „unfreundlicher als die andere“. Biden sei der „letzte Transatlantiker“ für lange Zeit auf dem Stuhl eines US-Präsidenten gewesen. Auch unter Harris würden sich die USA auf die Pazifik-Region konzentrieren. Schwerpunkt: China.
Merz bleibt sich in der Wirtschaftspolitik treu. Den „Bierdeckel“ werde er in seinem Leben nicht mehr los – die Idee, eine Steuerreform zu machen, die so einfach ist, dass sie auf einen Bierdeckel passt. Er strebe eine durchschlagende Unternehmenssteuerreform an, denn:
Auch Klimaschutz könne man nur machen, wenn das Geld dafür da sei. Und das Geld sei nur das, wenn Deutschlands Wirtschaft stark sei. Das ist sein Hauptaugenmerk. Und von dem leitet Merz auch seine sozialpolitischen Vorstellungen ab.
Den Sozialstaat findet Merz inzwischen dysfunktional
In der Rente werde die Union in einem „100-Tage-Programm“ konkrete Vorschläge machen, um dafür zu sorgen, dass nicht mehr ein knappes Drittel des Bundeshaushalts für die Finanzierung der Renten verwendet werden müsse. Wobei eins völlig klar sei:
„Die 67 bleibt.“ Die Rente mit 67, eingeführt unter einer SPD-geführten Regierung durch den damaligen Arbeitsminister Franz Müntefering, werde die Union nicht antasten. Obwohl dies so in dem erst kürzlich verabschiedeten Grundsatzprogramm der CDU steht.
Den Sozialstaat findet Merz inzwischen dysfunktional – insbesondere, weil über die Erhöhung des Bürgergelds sich Arbeit immer weniger lohne. „Der Arbeitsmarkt funktioniert nicht mehr“, sagt Merz. Und in der Industrie gingen gerade 300.000 Jobs verloren.
Von den mehr als fünf Millionen Bürgergeldempfängern seien rund vier Millionen Menschen erwerbsfähig. Es müsse wieder stärker unterschieden werden zwischen beitragsfinanzierten Leistungen zur Absicherung etwa der Arbeitslosigkeit und steuerfinanzierten Sozialleistungen – für Merz eine Frage der sozialen Gerechtigkeit.
„Deutsche wollen wieder stolz auf ihr Land sein“
Deutschland müsse sich schon klarwerden, was für diese Gesellschaft „Arbeit“ bedeute – eine sinnvolle Tätigkeit, die auch zu einer persönlichen Erfüllung beitrage, oder: „eine unangenehme Unterbrechung der Freizeit“?
Merz sagt an diesem Abend in Essen, ihm sei schon klar, dass mit einem Regierungsprogramm wie er es anstrebe, „keine absoluten Mehrheiten zu holen sind“. Aber für eine Mehrheit, um eine Regierung zu bilden, werde es am Ende reichen. Denn: „Die Deutschen wollen einmal wieder stolz auf unser Land sein.“