Eine Analyse von Ulrich Reitz - Ampel hat die Migration im Griff? Warum dieses Scholz-Selbstlob eine Legende ist

Kanzler Scholz beendet Ampel-Streit: „Ja“ zu schärferem Asyl-Recht in EU<span class="copyright">dpa</span>
Kanzler Scholz beendet Ampel-Streit: „Ja“ zu schärferem Asyl-Recht in EUdpa

Bundeskanzler Olaf Scholz behauptet, Deutschland könne sich seine Migranten aussuchen. Und es gebe jetzt, wie er versprochen habe, auch viel mehr Abschiebungen. Halten die Kanzler-Behauptungen der Wirklichkeit stand?

Die Migration nach Deutschland ist das Mega-Thema, und hier kommt die entscheidende Frage dazu, und zwar von einem der ungewöhnlichsten Fragesteller: „Dürfen wir uns aussuchen, wer nach Deutschland kommt?“, fragt – der Bundeskanzler. Und Olaf Scholz beantwortet die Frage aller Fragen gleich selbst: „Ja.“

Deutschland war mal Einwanderungsland

Was der Bundeskanzler bei seiner Sommer-Pressekonferenz sagt, ist weniger als die halbe Wahrheit. Wahr daran ist dies: Deutschland darf sich aussuchen, wer in die Bundesrepublik einwandern soll, wenn es diese Wahl hat – und tatsächlich davon auch Gebrauch macht.

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Als Deutschland sich Kohleminen-Arbeiter in Polen, Portugal, Griechenland und Italien holen wollte, weil es schon in den sechziger Jahren zu wenige Deutsche gab, die trotz hoher Bezahlung diese schwere und gesundheitsschädliche Arbeit machen wollten, konnte es sich diese Menschen ins Land holen. Die gut zehn Jahre zwischen dem Beginn der sechziger Jahre und dem Anwerbestopp 1973 - das war die einzige Zeitspanne, in der Deutschland wirklich Einwanderungsland war.

Deutschland kann sich auch heute Krankenschwestern aus Indonesien holen. Falls sie denn kommen wollen. In fast allen Branchen fehlen heute Facharbeiter, Akademiker und Nicht-Akademiker, und es gibt einen weltweiten Run auf sie. Das ist das, was Einwanderungsländer tun: Um Einwanderer aus aller Herren Länder konkurrieren.

Scholz sagt nur die halbe Wahrheit: Abgeschoben werden nur wenige Migranten

Nur: Das, was Einwanderungsländer tun, hat mit der gelebten Migrationspraxis in Deutschland so gut wie nichts zu tun. Das Gros der Einwanderung ins Land findet nicht über von Deutschland gewollte Einwanderer statt – nicht über ökonomische, sondern über humanitäre Einwanderung.

Und dies auch noch unter falschen Vorzeichen:  Bei der so genannten Flüchtlingseinwanderung haben nicht einmal ein Prozent der Migranten einen Anspruch auf Asyl wegen politischer Verfolgung nach dem Grundgesetz. Die wenigsten werden abgeschoben, die meisten werden geduldet, und zwar aufgrund internationaler Vereinbarungen und europäischer Rechtsprechung.

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Mit den Jahren hat der deutsche Staat die Verantwortung für die Migration schleichend abgegeben. Mit dem Lissabon-Vertrag und dann an die Genfer Flüchtlingskonvention und die Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs. Das ist der Grund, weshalb die Antwort des Bundeskanzlers auf dessen selbst gestellte Frage, ob wir uns unsere Einwanderer selbst aussuchen könnten, allenfalls die halbe Wahrheit ist.

Scholz hat vor einem Jahr „Abschiebungen im großen Stil“ angekündigt. Schaut man auch hier auf die Wirklichkeit, ergibt sich derselbe Befund: allenfalls die halbe Wahrheit. Ja, es stimmt, aus Deutschland werden, nachdem die Bundesregierung gemeinsam mit den Bundesländern erleichterte Abschiebungen beschlossen hat, viel mehr illegale Einwanderer abgeschoben – prozentual. Allerdings nicht in absoluten Zahlen.

Scholz sagt – mit recht: die Zahl der Abschiebungen sei um „30 Prozent“ gestiegen. Das hört sich großartig an, aber: Die Steigerung findet statt auf niedrigstem Zahlen-Niveau. Aus Deutschland wird nicht einmal jeder zehnte Ausreisepflichtige abgeschoben. Und dafür gibt es viele Gründe. So gibt es kein Migranten-Abkommen mit Syrien, ebenso wenig mit Afghanistan. Das aber sind die beiden Hauptherkunftsländer.

Verhandlungen mit Pakistan

Die Bundesregierung, voran die grüne Außenministerin Annalena Baerbock, weigert sich, mit Übel-Regierungen wie denen in Damaskus und Kabul Abkommen zu schließen – denn: Dadurch würden die doch diplomatisch aufgewertet. Die Bundesregierung hat sich dafür entschieden, dies schwerer zu gewichten als die Abschiebung von Flüchtlingen, die keine sind. Folgt man dem Kanzler, wird sich an dieser deutschen Praxis auch nichts ändern.

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Scholz sagt, die Regierung arbeite „ganz konkret“ an Möglichkeiten, Afghanen abzuschieben. Schon bald werde es dazu Nachrichten geben. Weil die Regierung nicht mit Kabul verhandeln will, verhandelt sie, das ist bekannt, mit Islamabad. Wer nicht nach Afghanistan abgeschoben werden kann, weil es mit den Taliban kein Abkommen gibt und auch nicht geben soll, wird dann abgeschoben nach Pakistan.

Das Land steht bei der menschlichen Entwicklung weltweit auf Rang 161 – man darf also auf diesbezügliche Abschiebe-Entscheidungen deutscher Gerichte gespannt sein. Aber bleiben wir fair: Das Problem ist häufig internationale Rechtsprechung. Nur sollte Scholz dann eben nicht den Eindruck erwecken, den er am liebsten erweckt, nämlich: alles werde gelöst (von ihm).

Scholz begrüßt ausdrücklich das Abschiebe-Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster. Denn der Syrer, der dort auf Nicht-Abschiebung klagte und abgelehnt wurde sei ein Schleuser gewesen, ein Straftäter also, und der könne auch kein Bleiberecht beanspruchen.

Asyl-Urteil wird wenig ändern

Nun: Bislang wurden auch Straftäter nicht nach Syrien abgeschoben, deshalb löst das Urteil des OVG unter Flüchtlingsverbänden auch einen solchen Wirbel aus. „Fatal und verheerend“, urteilt der NRW-Flüchtlingsrat.  Denn zum ersten Mal haben deutsche Richter geurteilt, Syrien sei nicht mehr unsicher genug, um eine Nicht-Abschiebung zu rechtfertigen.

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Das Urteil aus Münster bedeutet aber nun keineswegs, dass, wie es sich Kanzler Scholz und NRW-Innenminister Herbert Reul wünschen, nun generell nach Syrien abgeschoben werden kann. Darüber muss das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entscheiden. Der klagende Syrer war wegen Schleusungen von Menschen aus der Türkei nach Europa bereits in Österreich zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Das Münsteraner Urteil ist juristisch zwar aufsehenerregend, aber dürfte an der Realität von Nicht-Abschiebung grundlegend wenig ändern.

Der Kanzler verweist auf die Stellschrauben, an denen er dreht. Die Digitalisierung der Ausländerbehörden etwa. Oder die Ausstattung des Bamf mit Personal. Oder die Dauer der Verwaltungsgerichtsverfahren, die er in allen Bundesländern unter sechs Monate gedrückt sehen will. Oder die Gemeinsame Europäische Asylpolitik.

Scholz nimmt dabei in Anspruch, „den Schlendrian“ der vergangenen Jahre beendet zu haben. Da ist auch einiges dran. Aber gerade das Europäische Asylrecht (Geas) zeigt auch, woran es hapert.

Nach jahrelangen Verhandlungen haben sich die Europäer darauf geeinigt. Bis zuletzt haben die Grünen versucht, diese Einigung zu verhindern, manche sagen: zu hintertreiben. Baerbock musste es auf einem Kleinen Parteitag gegen die eigenen Leute durchsetzen. Nur:

An hohen Migrantenzahlen dürfte neues Asylsystem auch nicht viel ändern

Das Geas bezieht sich auf Migranten aus Staaten, in denen die Anerkennungsquote, gemeint ist: die generelle Schutzquote, die Nicht-Abschiebegründe umfasst, besonders gering ist. Also: Migranten aus den Hauptherkunftsländern Syrien und Afghanistan fallen gar nicht unter diese strengere Einwanderungs-Regelung. An den hohen Migrantenzahlen dürfte also das Geas auch nicht viel ändern.

Schließlich rechnet sich Scholz auch die vermehrten Grenzkontrollen an. Zu denen musste aber seine sozialdemokratische Innenministerin erst quasi gezwungen werden. Und: diese Grenzkontrollen funktionieren auf Dauer nicht, weil sie den Schengen-Verträgen über freien Personen- und Warenverkehr widersprechen. Und der Bundespolizei mehr Befugnisse zur Zurückweisung an den Grenzen zu geben, davon will die Innenministerin nichts wissen.

Wir wollen hier nicht nur unken, aber der Eindruck, den Scholz erweckt, er habe die irreguläre Migration im Griff, hält eben der Wirklichkeit nicht stand. Und von dem von Olaf Scholz als Tatsache hingestellten Zustand, dass Deutschland sich seine Einwanderer aussuchen könnte, ist das Land noch weit entfernt.

Man muss auch sagen, eine „Asylwende“ hat diese Ampelregierung nun gerade nicht versprochen – unter grüner Regie eher das Gegenteil davon. Sie wäre auch nicht nur mit den Grünen nicht machbar, sondern auch kaum mit der SPD-Bundestagsfraktion. Von der die Kanzlerschaft von Scholz abhängt.