Analyse von Ulrich Reitz - Ein Asyl-Zitat in Merkels Memoiren lässt einen fassungslos zurück
Angela Merkels Memoiren erscheinen an diesem Dienstag, Anne Will stellt sie gemeinsam mit der Ex-Kanzlerin vor. Wie Merkel urteilt, zeigt, wie naiv ihre Migrationspolitik 2015 und danach wirklich war.
Angela Merkels Kanzlerschaft sei nicht so bemerkenswert. Nicht so wie die von Konrad Adenauer, der für die Westbindung Deutschlands sorgte. Nicht so wie die von Willy Brandt, der die Ostpolitik ergänzte. Nicht so wie die von Helmut Kohl, der die Wiedervereinigung durchsetzte.
Das ist ein so weitverbreitetes wie falsches Urteil. Denn Angela Merkel gehört zu den Bundeskanzlern, die Deutschland tiefgreifend veränderten. Nur, eben eher nicht zum Positiven, jedenfalls lässt sich darüber lange streiten.
Einwanderungsland wider Willen
Was Merkel bewegt hat? Deutschlands erste Bundeskanzlerin, der erste weibliche Regierungschef, hat aus Deutschland ein Einwanderungsland wider Willen gemacht. Die unkontrollierte Einwanderung wurde in der Zeit ihrer Regierung fast zum Normalfall.
Die Änderung der Zusammensetzung eines Staatsvolks ist eine einschneidende Veränderung, die ganz anders, länger und tiefgreifender, wirkt als etwa das Ersetzen einer Energieform durch eine andere im Zuge von Klimapolitik. Oder eine „Zeitenwende“ für die Bundeswehr – nach deren Ausbluten in den Merkel-Jahren. „Wir schaffen das“ – wie konnte dies überhaupt geschehen?
Bei der Lektüre von Merkels Memoiren erhärtet sich im Nachhinein der Echtzeit-Eindruck bei der Begleitung ihrer 16-jährigen Amtszeit: Merkel agierte aus dem Augenblick heraus. Sie hatte keinen Plan, keine Strategie, was in ihren Regierungsjahren aus Deutschland werden sollte.
Merkels Migrationspolitik folgte ihrem Menschenbild
Stefan Kornelius urteilt in der „Süddeutschen“ über ihre Autobiografie: „In mitunter ermüdender Länge reiht sie Ereignis an Ereignis, gelegentlich inklusive der Startzeiten ihrer unzähligen Flüge. Dabei spart sie mit Deutung, Überhöhung oder Wertung.“ Wer nett sein will, sagt: Merkels Kanzlerschaft war unterphilosophiert. Auf die Migrationspolitik trifft das so pauschal aber nicht zu.
Denn Merkels Migrationspolitik folgte ihrem Menschenbild. Das war universalistisch – jeder Mensch sei gleich und habe die gleichen Rechte. Und es war optimistisch – und zwar hinsichtlich der Migranten. Und skeptisch zugleich – hinsichtlich der eigenen deutschen Bevölkerung, für die Merkel aber unmittelbar Verantwortung trug.
Merkel sagt über die Migranten, deren Motive könne man nachvollziehen, denn sie suchten „Wohlstand und Rechtsstaatlichkeit“. Man kann allerdings Wohlstand für sich erreichen, wenn man, zum Beispiel, aus Afghanistan kommt, ohne ihn selbst zu erwirtschaften. Das Bürgergeld ermöglicht für viele einen materiell privilegierteren Status als im Herkunftsland.
Merkel geht über den unliebsamen Teil der Migration überheblich hinweg
Und an die Suche nach Rechtsstaatlichkeit als grundsätzliche Annahme kann man nur glauben, wenn man viele Erscheinungsformen der Migration ausblendet, angefangen von den Kalifat-Demonstrationen über die krebsartig sich ausbreitende Clan-Kriminalität bis hin zur Etablierung juristischer Parallelstrukturen (sogenannte Friedensrichter, arrangierte Ehen, besondere Erbregelungen etc.).
Merkel geht über den unliebsamen, aber realen Teil der Migration nonchalant, auch überheblich hinweg. Mit den Folgen der Migration für die angestammte Bevölkerung setzt sie sich erst gar nicht auseinander. Im Gegenteil: Merkel ist ernsthaft der Meinung, die Gefährdung der Sicherheit eines Landes durch Einwanderung stünde auf einer Stufe mit der Toleranz gegenüber den Neuankömmlingen. In einem „Spiegel“-Interview liest sich das so:
SPIEGEL: Belastet Sie das Wissen darum, dass es zu manchen islamistischen Straftaten wohl nicht gekommen wäre, wenn Sie Deutschland möglichst abgeschottet hätten?
Merkel: Die Ängste der Menschen vor zu viel Zuwanderung und islamistischem Terrorismus habe ich immer sehr ernst genommen. Wenn man auf ein Volksfest geht und fürchtet, hinter mir zieht gleich einer ein Messer, dann ist das sehr verunsichernd, auch wenn es diese Gefahr in dem Moment vielleicht gar nicht gibt. Aber es gibt auch eine zweite Gruppe in der Bevölkerung, die Angst hat, und zwar davor, dass wir zu intolerant und hart werden. Als Kanzlerin muss ich beide Gruppen im Blick behalten.
Ein jeder soll sich Wissen aneignen müssen über die Kultur von Migranten
Nicht nur konservative Menschen erwarten vom Staat eine Politik, in der ihre Sicherheit der Gewährung von Toleranz gegenüber Migranten vorausgehen sollte. Merkel ist aber anders. Ihr Buch heißt: „Freiheit“. Gemeint ist: die Freiheit von Angela Merkel. Die Einschränkung der Freiheit durch die Einwanderungspolitik von Merkel ist jedenfalls nicht gemeint.
Merkel ist anders als die Mehrheitsgesellschaft auch noch an einem entscheidenden weiteren Punkt unterwegs: Sie sortiert die Bringschuld der angestammten Bevölkerung vor die Bringschuld der Migranten ein.
Im O-Ton: „Ohne die Offenheit und Veränderungsbereitschaft der aufnehmenden Gesellschaft kann es keine Integration geben. Voraussetzung ist ein Mindestmaß an Wissen über andere Kulturen, ich muss mich schon dafür interessieren.“
Ein jeder soll sich Wissen aneignen müssen über die Kultur von Migranten in deren Herkunftsländern? Und dies soll eine Verpflichtung sein, die ein Kanzler seiner Bevölkerung oktroyiert? Mehr noch: Augenscheinlich sollen diese kulturellen Eigenschaften dann auch noch hingenommen werden – etwa der politische Islam?
Ist das nicht eine undemokratische Grenzüberschreitung?
Ihr Selfie war von globaler Wirkung - Merkel will das nicht sehen
Merkel dementiert rundheraus ihre eigene Rolle als Pull-Faktor unkontrollierter Einwanderung – anhand des berühmten (berüchtigten?) Selfies, das sie einem Syrer gestattete, mit ihr zu machen. Andere Regierungschefs in ihrer Zeit handelten offensichtlich klüger: Berlusconi, Sarkozy, aber auch Hollande und Obama vermieden fröhliche Bilder mit Migranten.
Ihr Foto war von globaler Wirkung, es ging um die Welt. Die „Frankfurter Allgemeine“ urteilt: „Selbstverständlich wurden diese Bilder als Einladung aufgefasst.“
Dagegen Merkel: „Bis heute kann ich nicht nachvollziehen, dass man annehmen konnte, ein freundliches Gesicht auf einem Bild könnte scharenweise Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat bewegen.“ (Seite 517f.)
Was ist das: naiv, ignorant, trotzig? Man erinnert sich an das berühmt-berüchtigte Zitat von Merkel aus dieser Zeit: „Wenn wir jetzt noch anfangen müssen, uns dafür zu entschuldigen, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land. “ Hatte nicht Merkel „Multikulti“ noch 2010 für rundheraus „gescheitert“ erklärt?
Konnte Merkel wirklich nicht wissen, welche Verwerfungen ihre Migrationspolitik zur Folge haben würde?
Universalismus unterscheidet konsequenterweise nicht mehr zwischen In- und Ausländern, zwischen Deutschen und Migranten. Merkel kann darum DDR-Flüchtlinge auf eine Stufe mit Migranten stellen: „Ich kenne viele Flüchtlinge aus der DDR. Niemand hätte sich auf den Weg gemacht wegen der Aussicht auf einen Handshake mit Helmut Kohl.“ Das ist mehr als flapsig – es ist bzw. war: grundgesetzwidrig.
Migranten müssen verfolgt sein oder Abschiebeschutz genießen, um vor Abschiebung sicher zu sein. DDR-Bewohner waren für die Bundesrepublik Deutsche – sie mussten als DDR-Flüchtlinge überhaupt nichts nachweisen. Kamen sie, war es eine Übersiedlung – keine Einwanderung.
Schließlich: Man fragt sich auch im Nachhinein – konnte Merkel wirklich nicht wissen oder mindestens ahnen, welche gesellschaftlichen Verwerfungen ihre Migrationspolitik zur Folge haben würde? Denn es gab historische Vorbilder, Bundeskanzler vor ihr, die es grundsätzlich anders machten.
Der sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt verkündete 1973 einen Anwerbestopp und beendete damit auf einen Schlag die historisch einzige Phase, in der Deutschland wirklich „Einwanderungsland“ war. Nämlich zwischen Ende der 50er Jahre und Anfang der 70er Jahre, als gezielt Ausländer nach Deutschland geholt wurden.
„Es ist ein Makel, dass ihr der Sinn für Unlösbares abgeht“
Wer sich die Äußerungen des Brandt-Nachfolgers Helmut Schmidt über die Einwanderung in dieser Zeit anschaut, muss den Eindruck gewinnen: Heute würden „trusted flagger“ dafür Polizei und Verfassungsschutz rufen.
Helmut Kohl, bei dem Merkel „in die Schule ging“, beendete 1993 Deutschlands erste große Asylkrise – gemeinsam mit den Sozialdemokraten. Der Artikel 16 wurde so geändert, dass politisch Verfolgte nur Anspruch auf Asyl hatten, falls sie nicht aus einem sicheren Herkunftsland kamen.
Regierungen danach, vor allem die von Merkel, haben diese grundgesetzliche Regelung mehr oder weniger ad absurdum geführt. Eine grundlegende europäische Lösung war damals so illusionär wie heute. Thomas Schmidt urteilt in der „Welt“ über Merkel:
„Es ist ein Makel, dass ihr der Sinn für Unlösbares abgeht.“