Analyse von Ulrich Reitz - Baerbock und Scholz fühlen sich mächtig wichtig – die echten Deals machen andere

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).<span class="copyright">IMAGO/Metodi Popow</span>
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).IMAGO/Metodi Popow

Die Bundesregierung, voran Außenministerin Annalena Baerbock, stilisieren die Nachrüstung mit US-Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden als Zeichen eigener Stärke. Dabei offenbart sie, wie auch der jüngste spektakuläre Gefangenenaustausch, eine strukturelle Schwäche unserer Außenpolitik.

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Wie sehr es auf Deutschland gerade – nicht – ankommt, zeigt dieser Gefangenenaustausch: Im persönlichen Gespräch mit Olaf Scholz setzte der gerade von seiner eigenen demokratischen Partei wegen Altersschwäche als nächster Kandidat abgesetzte US-Präsident Joe Biden durch, dass die Bundesrepublik Deutschland an der eigenen Justiz vorbei einen verurteilten Mörder auf freien Fuß setzt.

Es ist eine drastische Niederlage für den deutschen Rechtsstaat. Darüber hinaus erlaubt der Vorgang einen illusionslosen Blick auf die Reichweite der deutschen Außenpolitik an sich.

Weshalb das wichtig ist? Weil es einen unverstellten Blick auf Regierungs-Statements zur Außenpolitik erlaubt, der nur eine Schlussfolgerung zulässt: Bei allen außenpolitischen Konflikten, in die Deutschland involviert ist, aber eben auch die USA, bleibt Deutschland am Ende nur eine Wahl: Berlin hat sich den Interessen Washingtons zu beugen.

Damit eine solche Niederlage nicht so aussieht wie eine, wird eine patriotische Kategorie bemüht, die als kaum noch hinterfragbar gilt: die deutsche Staatsräson.

Olaf Scholz, Putins Tiergartenmörder und die deutsche Staatsräson

Der soll nun geschuldet sein, dass Olaf Scholz für die Freilassung des Tiergartenmörders sorgte, der im russischen Staatsauftrag auf deutschem Boden einen Tschetschenen ermordete, den Wladimir Putin zum Tode verurteilt hatte. Die deutsche Staatsräson besteht darin, einen Beweis maximaler deutscher Bündnistreue abgelegt zu haben.

Das hat einen hohen Preis, Deutschland hat ihn schon einmal kennengelernt, im Kampf gegen die RAF-Terroristen Ende der siebziger Jahre. Als Ergebnis der Entführungen von Lorenz und Schleyer erlaubte seinerzeit das Bundesverfassungsgericht einer Bundesregierung, im Namen der übergeordneten Staatsräson Deals selbst mit Terroristen einzugehen. Oder, wie im Fall des von den Terroristen entführten Schleyer, eben auch nicht, was der mit seinem Leben bezahlte.

Zurück zur deutschen Außen- und Verteidigungspolitik: Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock begründet die Nachrüstung der Nato mit amerikanischen Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden mit dem Bruch des INF-Vertrags durch die Russen. Tatsächlich hat Moskau in Kaliningrad atomwaffenfähige Mittelstreckenraketen aufgestellt – das frühere Königsberg liegt gerade einmal 600 Kilometer von Berlin entfernt. Putin hat Deutschland lange schon ins Visier genommen.

Was Baerbock erzählt, ist nur die eine Version

Baerbock sagt, die Russen hätten den Angriff auf die Ukraine von langer Hand vorbereitet. Und darum eben in Kaliningrad die A-waffenfähigen Raketen aufgestellt, mit denen dann der Westen, voran in Europa die Deutschen, erpresst werden könnten.

Was Baerbock – in einem Beitrag in der „Bild“-Zeitung – erzählte, ist allerdings nur die eine Version. Von Seiten der Russen und mit Blick auf die zeitlichen Zusammenhänge sieht es anders aus:

Nachdem die Amerikaner in Polen und Rumänien ein Nato-Raketenabwehrschild aufgebaut hatten, kündigte der damalige russische Präsident Medwedew – heute Putins Lautsprecher – die Stationierung der Iskander-Raketen in Kaliningrad an – das war 2008. Dann verhandelten Russen und Amerikaner – Motto: Verzichtet Washington auf den Abwehrschild in Polen und Rumänien, verzichtet Moskau auf die Iskander-Stationierung.

Die Verhandlungen scheiterten, die Russen stationierten die Raketen in Kaliningrad. Das war 2013. Der außenpolitisch schwache demokratische Präsident Obama reagierte nicht. Danach kam Trump, und der kündigte schließlich für die USA 2019 den INF-Vertrag auf.

Die Grünen heißen die Raketen-Nachrüstung nun gut

Die Stationierung weitreichender amerikanischer Mittelstreckenraketen – (vorläufig) konventionelle Waffen, also nicht mit Atomwaffen bestückt – in Deutschland war die Überraschung schlechthin des letzten Nato-Gipfels. Der Bundeskanzler, der Verteidigungsminister und die Außenministerin verteidigten die Entscheidung. Diese Verteidigung fiel erst einmal technokratisch aus: eine „Fähigkeitslücke“ sollte geschlossen werden.

Inzwischen regt sich erheblich Widerstand dagegen in der SPD, angeführt vom SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich, auf dessen Loyalität Scholz als Kanzler angewiesen ist. Zu den bemerkenswertesten politischen Entwicklungen zählt, dass die Grünen die Raketen-Nachrüstung nun gutheißen.

Was für ein Wandel! In den achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre hatten Grüne noch den Widerstand gegen die damalige Nato-Nachrüstung angeführt. Und damit ihren Ruf als pazifistische Partei begründet. Das ist nun lange vorbei – für die heutigen Grünen sind Kriegswaffen Mittel zur Erreichung geostrategischer Ziele. Niemand vertritt diese Ansicht so konsequent und moralisch wie Außenministerin Baerbock.

Deutschland – und die Europäer – haben Putin nichts zu bieten

Die Grüne lädt ihre Begründungen dafür stets menschlich auf – „die Bilder des russischen Angriffs auf das Ochmatdyt-Kinderkrankenhaus in Kiew haben sich mir eingebrannt“. So zu argumentieren, hat sie zu ihrem Markenkern als Chef-Außenpolitikerin gemacht.

Das macht sie inzwischen zum – fragwürdigen – Maßstab für die Beurteilung strategischer Fragen. So rechnet sie es der Ukraine hoch an, trotz der hohen eigenen Opfer die Russen zur nächsten Friedenskonferenz einzuladen. Diese Einladung ist allerdings nicht ukrainischer Großmut geschuldet, sondern der Entwicklung auf dem Schlachtfeld und dem Wissen, dass ohne die Russen ein Frieden nicht zu erreichen sein wird.

Putin lehnte die Teilnahme – erwartbar – ab. Seine Terror-Regierung glaubt an einen militärischen Sieg – und geht davon aus, dass dies weder abhängt von Deutschland noch von der Ukraine, sondern mittelbar von China und unmittelbar von den USA. Deutschland – und die Europäer – haben Putin nichts zu bieten.

Die schwarz-rot-grüne Ukraine-Koalition aus von der Leyen, Scholz und Baerbock

Die Europäer haben sich mehrheitlich festgelegt auf die volle Unterstützung der Ukraine. Man konnte dies zuletzt an der harschen Ablehnung studieren, die eine Friedensinitiative des ungarischen Präsidenten Viktor Orban in Brüssel wie in Berlin erfahren hat – von der schwarz-rot-grünen Koalition aus von der Leyen, Scholz und Baerbock.

Weil es andererseits jenseits von Deklamationen weder aus Brüssel noch aus Berlin irgendwelche Vorschläge für eine Diplomatie gibt, die die Russen und deren Interessen einschließen würde, haben sich die Europäer quasi auch noch selbst aus dem Spiel genommen. Baerbock hat nichts zu versprechen, und weder auf sie noch auf den Bundeskanzler kommt es am Ende an.

Sondern auf den nächsten amerikanischen Präsidenten. Und ganz gleich, wie entweder Kamala Harris oder Donald Trump im Ukraine-Krieg entscheiden – sie werden es im Wissen tun, dass ihren Verbündeten keine Alternative bleibt, außer ihnen zu folgen.

Die deutsche Ukraine-Politik wird in Washington gemacht

Wie der nächste Präsident in den Staaten entscheidet, ist offen, und die Linie läuft quer durch die republikanische wie die demokratische Partei. Es ist etwa keineswegs sicher, dass Trump sich die Ukraine-feindliche Haltung seines „Running-Mate“ Vance zu eigen macht. Sowohl bei Demokraten als auch bei Republikanern gibt es Anhänger der These, die Ukraine gehe die USA nichts an.

Aber das Gegenteil existiert eben auch: Die Denkschule, dass ein Sieg Russlands der Ukraine allein schon deshalb gegen die Interessen Amerikas wäre, weil es dessen chinesischen Hauptgegner stärken und zu imperialistischen Aktionen – etwa gegen Taiwan – ermuntern würde.

Jedenfalls hieß der erste ausländische Regierungschef, mit dem Trump nach seiner Präsidentschafts-Nominierung telefonierte, Wolodymyr Selenskyj. Hinterher wurden vor allem Freundlichkeiten verbreitet. Trump sorgte auch dafür, dass die Republikaner im Kongress doch noch die jüngsten Milliarden-Hilfen für die Ukraine freigaben.

Ergo: Die deutsche Ukraine-Politik wird in Washington gemacht. Der Einfluss der Bundesrepublik auf die – letztlich eigenen Geschicke – war, in der langen Linie, einmal deutlich höher. Ironischerweise unter einem sozialdemokratischen Bundeskanzler: Helmut Schmidt.