Analyse von Ulrich Reitz - England-Krawalle sind uns näher, als Sie glauben - Zeit für eine bittere Erkenntnis

England kommt nicht zur Ruhe. Hotels mit Asylbewerbern und Moscheen geraten ins Visier rechtsextremer Randalierer.<span class="copyright">Getty Images / Drik / Kontributor</span>
England kommt nicht zur Ruhe. Hotels mit Asylbewerbern und Moscheen geraten ins Visier rechtsextremer Randalierer.Getty Images / Drik / Kontributor

Rechtsradikaler Aufruhr, radikalisierter muslimischer Mob in den Straßen, dazwischen die sozialen Medien: Kann, was in England gerade passiert, auch bei uns geschehen?

Der englische Patient hat einen Bruder in Deutschland. „Grundsätzlich ist das alles auch in Deutschland denkbar.“ Sagt Peter Neumann, der am King`s College in London als international gefragter Terrorismus-Experte lehrt. Und der – hätte Armin Laschet nicht einmal falsch gelacht – anstelle von Nancy Faeser deutscher Innenminister geworden wäre.

Aber – was ist eigentlich „das alles“?

Man muss zuerst über die Nachrichtenlage sprechen, denn die ist nicht klar und eindeutig. Nachdem ein 17-Jähriger drei Menschen getötet und weitere schwer verletzt hat, brachen in England Unruhen aus. Rechtsradikale randalierten und marodierten durch britische Städte, sie griffen Polizisten an. Im nordenglischen Rotherham attackierten sie ein Hotel, in dem sie Asylbewerber vermuteten.

Bilder aus Großbritannien erinnern an Rostock-Lichtenhagen

Die Bilder, die darüber in Windeseile verbreitet wurden, erinnern an den Anschlag in Rostock-Lichtenhagen – dem größten fremdenfeindlichen Angriff in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Womit der englische Fall schon rein optisch auch in Deutschland landete.

Aber: Auslöser der Gewaltexplosion auf der britischen Insel, die inzwischen Tage andauert und auch kein Ende zu finden scheint, war eine über soziale Medien verbreitete Falschmeldung: Der mutmaßliche Messer-Attentäter sei ein Asylbewerber, der erst kürzlich mit einem Boot in Großbritannien angekommen sei.

Ein nicht nur für Briten leider vertrautes Szenario. Neumann geht davon aus, die Falschinformation sei von einem russischen Server gekommen.

Stimmte das, ginge der Aufruhr in den britischen Städten auf Putins Hybrid-Krieger zurück. Ein beängstigender, aber auch wieder durchaus wahrscheinlicher Ablauf. Beweise gibt es – noch – nicht. Jedenfalls verbreitete sich die Version von dem messermordenden Islamisten in den sozialen Netzwerken in Sekunden. Es war die perfekte Trigger-Warnung für Rechtsradikale.

Wenn „Muslim Patrol“ Jagd auf weiße Briten macht

Der 17-Jährige heißt Axel Rudakabana, ein Gericht hat die Veröffentlichung seines Namens freigegeben, was ansonsten bei Minderjährigen auch Journalisten bei Strafe verboten ist. Der Grund: Rudakabana wird an diesem Mittwoch volljährig.

Nun ist allerdings der Sohn ruandischer Eltern nicht nur in Großbritannien geboren, sondern seine Eltern sind auch keine Muslime, sondern Christen, die nach Aussagen von Nachbarn regelmäßige Kirchgänger seien. Aktuell ist in der britischen Presse von einer Autismus-Diagnose des mutmaßlichen Täters die Rede.

Szenenwechsel: Die Angriffe Rechtsradikaler auf Moslems und die vermuteten Aufenthaltsorte von Flüchtlingen blieben nicht unbeantwortet. Inzwischen kursieren im Netz aus Städten wie Birmingham Videos, die marodierende, vermummte, oft mit Palästinenserfahnen ausgerüstete muslimische Gewalttäter zeigen. Sie nennen sich „Muslim Patrol“ oder „Muslim Defense“ – und machen, so rufen und schreien sie es auch, im Namen ihres Propheten Jagd auf weiße Briten, die keine Muslime sind.

„Das alles“, was Peter Neumann auch in Deutschland für denkbar hält, ist ergo augenscheinlich eine brisante Mischung, die man auch als solche erst einmal erkennen muss, um nicht die falschen Schlussfolgerungen zu ziehen, davon später mehr.

In England passiert, was auch in Deutschland denkbar ist

Jedenfalls, „das alles“ ist wohl dies: Russische Internet-Trolle platzieren gezielt in einem Land, in dem irreguläre Migration und oft fehlgeschlagene Integration zu gesellschaftlichen Großthemen geworden sind, eine Falschmeldung in ein leicht entflammbares, rechtsradikales Milieu. Krawalle beginnen dort „wunschgemäß“ und lösen Gegenkrawalle aus, von radikalisierten Muslimen, aber auch Linksradikalen, oder von beidem. Die wiederum nähren ein Gefühl von Staats-Ohnmacht.

Kurzum: Wenn man als feindliche Macht eine westliche Gesellschaft derzeit destabilisieren will, muss man es genau so machen.

Und die Regierung in London?

Adressiert nur das eine Thema – rechtsradikale Gewalt. Der sagt der britische, sozialdemokratische Premierminister Keir Starmer mit reichlich aufgeblasenen Backen die entschlossene Gegenwehr des Staates an: „Ich garantiere Ihnen, Sie werden es bereuen, an diesen Unruhen teilgenommen zu haben.“ Über den Aufruhr in und durch eine radikalisierte muslimische Community: bisher kein Wort.

Also passiert, was auch in Deutschland denkbar ist: Es schaukelt sich hoch. Und in den sozialen Netzwerken verbreitet sich, untermalt von Videos, die Szenen zeigen, in denen britische Polizisten ältere Menschen, die auf Facebook ihre Empörung aufgeschrieben haben, festnehmen, eine Stimmung gegen den Staat. Auch die droht, zur kommunikativen Lawine zu werden.

Elon Musk ist einer der meistgehassten Männer der Welt, aber auch furchtlos

Und auf der von ihm gekauften digitalen Plattform X stellt der reichste Mann der Welt, Elon Musk, direkt und von Millionen von Menschen zu lesen an den britischen Premierminister die Frage, ob es nicht die Aufgabe einer Regierung sei, „alle“ Städte seines Landes zu schützen.

Womit er – zutreffend – sagt: Nicht nur die von Rechtsradikalen angegriffenen, sondern auch die, die von eingewanderten Muslimen attackiert werden. Angehängt hat Musk ein Video, das eine Attacke aufgebrachter Muslime auf einen britischen Pub-Besitzer in Birmingham dokumentiert; von der Polizei keine Spur.

Elon Musk ist einer von der politischen Linken meistgehassten Männer der Welt, aber er ist furchtlos. Und er hat eine mediale Reichweite, an die kein Politiker und kein Medium weltweit heranreicht: Ihm folgen auf seiner Plattform X mehr als 193 Millionen Menschen. Zum Vergleich: Die ARD-Tagesschau brachte es an diesem Montagabend in der Primetime um 20 Uhr auf 3,6 Millionen Zuschauer.

Linke und Rechte - beide greifen zu kurz

Peter Neumann sagt – in seiner ganzen wissenschaftlichen Abgeklärtheit –, es gebe drei Themen, über die gesprochen werden müsse: Rechtsextremismus, Desinformation und soziale Medien, Probleme mit Migration und Integration. Und dann folgt die entscheidende Feststellung, von der man sich wünscht, dass sie in der Politik ankommen möge und auch in den Medien.

Sie lautet: „Wer sich nur auf ein Thema stürzt und die anderen herunterspielt, punktet politisch, aber trägt wenig zur Lösung bei.“

Die Linken wollten nur über die Gefahr durch Rechtsextreme sprechen, die Rechten nur über Migration – „beides greift zu kurz“. Man kann hinzufügen, dass sich die konservative politische Seite in Deutschland inzwischen wesentlich leichter tut in der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus als die politische Linke in der Auseinandersetzung mit dem Islam und der Migration insgesamt.

Eines haben Linke und Grüne, das zeigt so gut wie jede Debatte, ob in den Talkshows oder im Bundestag, bis heute grundlegend nicht verstanden: Migranten kommen nicht nur nach Deutschland, um hier zu leben – und sich zu integrieren.

Sie kommen auch nach Deutschland, um es zu verändern.

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