Analyse von Ulrich Reitz - Grüne pflegen plötzlich einen neuen Fetisch und zeigen dabei historische Unkenntnis

Britta Haßelmann (l-r), Fraktionsvorsitzende, Ricarda Lang, Bundesvorsitzende, und Katharina Dröge, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen<span class="copyright">Kay Nietfeld/dpa</span>
Britta Haßelmann (l-r), Fraktionsvorsitzende, Ricarda Lang, Bundesvorsitzende, und Katharina Dröge, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die GrünenKay Nietfeld/dpa

Die Grünen versuchen, sich auf den Unions-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz einzuschießen. Dabei haben sie unerwartete Verbündete entdeckt. Aber taugen schwarze Riesen wirklich als grüne Kronzeugen?

Auf der Suche, wie Friedrich Merz am besten zu bekämpfen sei, sind die Grünen fündig geworden. Sie sind auf einen kultischen Gegenstand getroffen, einen Fetisch. Genauer gesagt: gleich drei.

Zwei davon sind schon tot, das hat Vorteile. Sie können sich gegen die so plötzliche wie verzweifelte Vereinnahmung durch die Grünen nicht mehr zur Wehr setzen. Der eine war lang und hager und schwarz wie die Nacht: Konrad Adenauer.

Der andere grüne Fetisch war sehr groß und sehr dick, ein ausgesprochener Fleischfreund, wurde Adenauers „Enkel“ genannt, nicht ganz zu Unrecht, und hielt die Grünen für langhaarig, unseriös, kurzum: für eine Übergangserscheinung. Eine Fußnote der Geschichte: der Historiker Helmut Kohl.

Adenauer und Kohl können gegen ihre Vereinnahmung durch die Grünen nicht mehr protestieren

Adenauer und Kohl können gegen ihre Vereinnahmung durch die Grünen nicht mehr protestieren, die dritte könnte es schon, falls sie wollte, was so sicher nicht ist. Angela Merkel fanden die Grünen schon immer gut, denn die war, anders als Adenauer und Kohl, keineswegs schwarz wie die Nacht, nicht einmal katholisch, die erste Umweltministerin, und spätestens 2015 hatten die Grünen die flüchtlingsfreundliche CDU-Frau politisch adoptiert.

Die ideologische Vereinnahmung von gleich drei der fünf christdemokratischen Bundeskanzler entspringt allerdings nicht einer urplötzlich erwachten grünen Wertschätzung, sondern: blanker Not.

Die Grünen sind schwindsüchtig geworden, es sieht auch nicht danach aus, dass sich dies am Sonntag in Brandenburg dramatisch ändert. Der Zeitgeist weht zwar, wo er will, aber er sieht nicht mehr grün aus, sondern schwarz. Oder blau. Was die Grünen eigentlich gern unter einer Überschrift versammeln: „Rechts“.

Das gefährlichste, was aktuell „rechts“ ist, ist beinahe so groß wie Kohl und beinahe so hager wie Adenauer und heißt: Friedrich Merz.

Die Grünen haben eine Lücke ausgemacht

Die Grünen haben eine Lücke ausgemacht, ebenso wie der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil neuerdings – die Merkel-Wähler. Die sind jetzt angeblich heimatlos geworden – haben Angst vor dem konservativen Friedrich Merz und warten nur darauf, von Sozialdemokraten und Grünen umworben zu werden. So weit jedenfalls die akademische Theorie.

Und dort sind Wähler keine individuellen Wesen aus Fleisch und Blut, sondern soziologische Cluster, die auch keinen eigenen Willen haben, sondern die man hin und herschieben kann. Vereinfacht gesagt, glaubt etwa Ricarda Lang:

Wenn sie Kohl lobt und Adenauer gleich mit und Frau Merkel sowieso, dann wählen alle Halb-Rechten auf einmal sie und die Grünen. So zu denken, kennt man auch rechts der Mitte, derlei erweist sich allerdings bisweilen als Irrtum, weil eben Wähler keine Mäuse sind, die man mit Speck fangen kann.

Einige Belege für die grüne Fetisch-These

Hier nun kurz einige Belege für die grüne Fetisch-These, die Liste ist nicht einmal vollständig. Ricarda Lang, die Parteivorsitzende der Grünen:

„Dass die Union in dem Versuch, sich von Angela Merkel zu distanzieren, jetzt auch bereit ist, das Erbe von Konrad Adenauer und Helmut Kohl über Bord zu werfen, das ist absolut unverantwortlich.“

Katharina Dröge, Grüne Fraktionsvorsitzende: „Sie verabschieden sich nicht nur von der Politik von Angela Merkel, sie verabschieden sich von der Politik von Helmut Kohl und Konrad Adenauer – zumindest wir werden das nicht zulassen.“

Schließlich Claudia Roth: „Was Friedrich Merz in den letzten Wochen an Vorschlägen geäußert hat, würde die großen Errungenschaften in Europa wie die Freizügigkeit abschaffen.“

Nun aber zum Fakten-Check: Haben die Grünen recht, wenn sie sich mit ihrer Europa- und Flüchtlingspolitik auf Adenauer, Kohl und Merkel berufen? Nehmen wir das Ergebnis vorweg: Es handelt sich um einen netten Versuch. Allenfalls.

Adenauer war der erste deutsche Kanzler, der eine Flüchtlingspolitik betrieb

Adenauer war einer der wichtigsten Baumeister Europas. Hier haben die Grünen recht. Nur: Adenauers Europa war nicht weltanschaulich neutral, sondern für den konservativen Rheinländer die einzig mögliche Antwort auf den größten Gegner seiner Zeit: den kommunistischen, aggressiv-expansiven und vor allem: gottlosen Osten Europas. Gelenkt von den Russen, die für Adenauer waren, was der konservative US-Präsident Ronald Reagan Jahre später „Reich des Bösen“ nennen sollte.

Adenauer war der erste deutsche Kanzler, der eine Flüchtlingspolitik betrieb, die das Land tiefgreifend veränderte – Adenauer ließ Millionen von Flüchtlingen herein. Allerdings: Heimatvertriebene, die für ihn schlicht Deutsche waren. Dass die Bundesrepublik Deutschland die Heimat aller Menschen mit deutschen Wurzeln sei, war für ihn eine Selbstverständlichkeit.

Helmut Kohl folgte Adenauer

Helmut Kohl folgte Adenauer in dieser Sicht – als er unter Berufung auf das Grundgesetz Hunderttausende von Aussiedlern nach Deutschland ließ. Was Sozialdemokraten wie Oskar Lafontaine damals als deutschtümelnd, also nationalistisch, verspotteten.

Adenauer war auch der erste Bundeskanzler, der Deutschland zum Einwanderungsland machte. Dass die Grünen heute für sich in Anspruch nehmen, die Bundesrepublik zu einem Einwanderungsland gemacht zu haben, zeugt von historischer Unkenntnis. Womöglich liegt es daran, dass Adenauer Einwanderungspolitik machte, als viele Grüne noch im Kindergartenalter waren.

Das Kennzeichen von Einwanderungsländern ist, dass sie Ausländer nach ihren ökonomischen Interessen ins Land holen. So machen es alle klassischen Einwanderungsländer. Menschen ohne Pass hunderttausendfach und auf Dauer nach Deutschland einreisen zu lassen, das machen Einwanderungsländer gerade nicht.

Adenauer war der erste Einwanderungskanzler. In seiner letzten Amtszeit schloss er, als Reaktion auf den Fachkräftemangel (!) infolge des Wirtschaftswunders das wichtige Anwerbe-Abkommen mit der Türkei. Ohne Adenauers Einwanderungspolitik wäre Cem Özdemir nie deutscher Landwirtschaftsminister geworden. Das Abkommen datiert von 1961. Zuvor hatte Adenauers Regierung solche Fachkräfte-Einwanderungsabkommen (so würde man sie heute nennen) mit Griechenland, Italien und Spanien geschlossen.

Adenauers „Migrantenpolitik“ taugt nicht als grünes Leitbild

Unter Adenauers Vorsitz entwarf der Parlamentarische Rat unter Dinos und Giraffen im Bonner Museum Koenig das Grundgesetz – inklusive Artikel 16 – mit der im weltweiten Vergleich einmaligen Formulierung eines Asylrechts, das nicht der Staat „gewährt“, sondern der Asylbewerber „genießt“. Niemand, aber wirklich niemand rechnete 1949 damit, dass irgendwann einmal hunderttausende von Migranten dieses Asylrecht als Einwanderungsrecht missbrauchen würden.

Adenauers „Migrantenpolitik“ taugt also ganz und gar nicht als grünes Leitbild. Und mit Adenauers Europapolitik ist das auch so eine Sache. Tatsächlich hatte der erste deutsche Kanzler eine europapolitische Vision:

Er wollte die „Vereinigten Staaten von Europa“ bauen. Das mögen die Grünen. Was sie wohl kaum mögen: Für ihn war Europa nur denkbar als Christenclub.

Adenauer 1951: „Die Integration Europas ist die einzig mögliche Rettung des christlichen Abendlandes.“ Die Vorstellung, Adenauer hätte die massenhafte Einwanderung von Menschen muslimischen Glaubens gutgeheißen, wäre eine drastische Geschichtsklitterung. In diesem Punkt herrschte parteiübergreifend Einigkeit. Ein sozialdemokratischer Bundeskanzler beendete die Einwanderungspolitik Adenauers:

Willy Brandt. 1973 beschloss seine sozialliberale Regierung den Stopp der Anwerbepolitik. Brandts SPD-Nachfolger Helmut Schmidt äußerte sich in einer Weise abfällig über die Einwanderung etwa von Türken, dass heute die Grünen den Verfassungsschutz gegen ihn losschicken würden: wegen „antimuslimischem Rassismus“.

Nun zu Helmut Kohl. Der veranlasste genau jene Grundgesetzänderung, die mit dem Artikel 16a eine drastische Einschränkung des Asylrechts mit sich brachte. Anspruch auf Asyl hatte fortan nur noch, wer nicht zuvor in einem anderen europäischen Land vor Verfolgung sicher war.

Das war 1993, Architekt der Grundgesetzänderung war Kohls bester Mann: Wolfgang Schäuble. An seiner Seite der damals weitsichtige sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende Hans-Ullrich Klose. Heftig bekämpft wurde diese schwarz-rote Asyl-Koalition: von den Grünen.

Merkels Flüchtlingspolitik von 2015 lehnte Kohl 2016 rundheraus ab, wegen kulturfremder Migration und weil Merkel, die Kanzlerin, ihre Asylpolitik nicht mit den europäischen Nachbarn abgestimmt habe.

Ricarda Lang und Co. haben sich die falschen Fetische ausgesucht

Ebenso lehnte Kohl weite Teile der vom Grünen Außenminister Joschka Fischer verantworteten Außenpolitik ab. 2002 soll Kohl den Grünen Fischer „zutiefst antisemitisch“ genannt haben. Damit nicht genug. 2013 urteilte Kohl: „Wir haben noch nie einen Außenminister gehabt, der sich so durch die deutsche Geschichte gelogen hat wie der.“

Kurzum: Wenn die Grünen jetzt Adenauers und Kohls Politik für sich selbst und gegen Friedrich Merz reklamieren, erfüllen sie einen von ihnen selbst erfundenen Tatbestand:

Den der – als neokolonialistisch anrüchig einsortierten - „kulturellen Aneignung“. Ricarda Lang und Co. haben sich die falschen Fetische ausgesucht.