Analyse von Ulrich Reitz - Kurz vor der Brandenburg-Wahl wagt Woidke einen drastischen Asyl-Schritt
Nicht nur Friedrich Merz – auch ein sozialdemokratischer Ministerpräsident grätscht der Ampel voll in die Seite. Was zeigt: Wahlkämpfe können auch Wahrheitszeiten sein.
Nichts gegen Hendrik Wüst, aber weitaus spannender wäre gewesen, Caren Miosga hätte an seiner Stelle einen anderen Gast eingeladen.
Denn Wüst bleibt noch eine ganze Weile Ministerpräsident, während Dietmar Woidke womöglich schon an diesem Sonntagabend um 18.01 Uhr nach elf Jahren als Ministerpräsident von Brandenburg Geschichte ist.
Und also hätte man gern mehr darüber erfahren, wie der Sozialdemokrat in diesem letzten sozialdemokratischen Stammland diesem existentiellen Schicksal entgehen will.
„Wut oder Woidke“
Viele Menschen glauben, Wahlkämpfe seien Zeiten der Unwahrheit, weil Versprechen gemacht werden, um Stimmen zu fangen, die hernach nonchalant vergessen oder für unmöglich erklärt werden. Es geht aber auch andersherum, dann sind Wahlkampfzeiten Wahrheitszeiten.
Schon früh hat der letzte SPD-Dauer-Ministerpräsident – die Brandenburger kennen als Landesväter nur Sozialdemokraten - seinen Wählern ein Ultimatum gestellt und es sogleich auf seine Plakate schreiben lassen: „Wut oder Woidke“. Damit will er sagen und sagt es auch öffentlich: Verliert er mit seiner SPD gegen die AfD, dann ist er weg vom Fenster.
Woidke setzt alles auf eine Karte – sich selbst. Es gab in den vergangenen 30 Jahren nur einen Sozialdemokraten, der sich etwas Vergleichbares getraut hat. 1998 machte Gerhard Schröder seine Kanzlerkandidatur für die SPD gegen Helmut Kohl von seinem Wahlsieg in Niedersachsen abhängig.
Der Mann hat den Bundeskanzler aus seinem Wahlkampf ausgeladen
Es war ein Wette gegen den Rivalen Oskar Lafontaine. Schröder gewann, man möchte sich kaum vorstellen, was mit der deutschen Wirtschaft anstelle der sozialen Renovierungs-Reformen passiert wäre, er hätte verloren.
Die SPD zahlte einen hohen Preis – Lafontaine machte die Linkspartei groß, danach machte sie seine Frau – Sahra Wagenknecht – wieder klein und gründete den nächsten SPD-Rivalen.
Das war so überraschend wie erfolgreich: Demnächst könnte Wagenknechts Partei in gleich drei Ost-Ländern regieren. Auch in dem Land von Woidke.
Der Mann hat den Bundeskanzler aus seinem Wahlkampf ausgeladen. Und das obwohl Olaf Scholz sogar in Brandenburgs Hauptstadt wohnt und dort, in Potsdam, seinen Wahlkreis hat. Auch Annalena Baerbock wohnt hier, was nicht unwichtig ist, weil Woidke auch außenpolitisch, bei der Ukraine und den Ami-Raketen, macht, was er will.
Scholz und Faeser müssen erst im kommenden Jahr Wahlen gewinnen
Auch in Brandenburg ist die Migration Thema Nummer Eins. Und dem Sozialdemokraten Woidke ergeht es hierbei wie dem Christdemokraten Friedrich Merz: Beide halten für halbgar, was Scholz und seine Bundesinnenministerin gerade veranstalten, um die Asyl-Zahlen zu senken.
Scholz und Faeser müssen erst im kommenden Jahr Wahlen gewinnen – Woidke in ein paar Tagen. Also arbeitet er sich lustvoll an der von ihm für dysfunktional gehaltenen Migrationspolitik der Ampel-Regierung ab. Die Bundesregierungen ringt mit sich selbst um Abschiebungen? Woidke hat da eine klare Meinung:
„Dass wir Asylbewerber, für die ein anderes Land zuständig ist, hereinlassen und dann nicht mehr abschieben können, ist ein Irrsinn, den kein Bürger mehr versteht.“
Aber was ist mit Europa, darf man denn zurückweisen direkt an der deutschen Außengrenze, was Friedrich Merz von Olaf Scholz fordert und der strikt verweigert?
Woidke verweist auf die deutsche Verfassung
Woidke beeindruckt auch der Expertendiskurs wenig – zumal der die für die Bevölkerung wohl alles entscheidende Frage unbeantwortet lässt – oder gar nicht erst stellt:
Was wird mit einem Deutschland, in das Jahr für Jahr, inklusive Familiennachzug, zwischen 400.000 und 500.000 Migranten kommen, die wenigsten unter ihnen sind Facharbeiter, dafür aber muslimischen Glaubens?
Ungerührt von den Bedenken auch des liberalen Bundesjustizministers Marco Buschmann sagt Sozialdemokrat Woidke: „Die Wahrheit ist, dass die Dublin-Verordnung auch von anderen EU-Ländern kaum noch angewendet wird.“
Und Woidke verweist auf die deutsche Verfassung, den Artikel 16 a, der vorsieht, dass Migranten, die anderswo in Europa schon sicher waren, keinen Asyl-Anspruch in Deutschland haben: „Wir müssen jetzt geltendes Recht durchsetzen.“
Die politische Linke, Scholz, mehr noch die Grünen, arbeiten sich gerade an Friedrich Merz ab. Schneller als Markus Söder hat der Kanzler den CDU-Chef zu seinem Herausforderer gekürt – und zeichnet ihn als charakterschwach und vergesslich (was angesichts der eigenen Cum-Ex-Vergesslichkeit schon mutig scheint).
Woidke will kein Maulheld sein
Aus dem Fokus gerät dabei, dass auch Ministerpräsidenten wie Woidke längst Merz die Daumen drücken – was weniger an ihrer ideologischen Überzeugung liegt als vielmehr an ihrem Job.
Brechen die Gemeinden, die Schulen vor allem, unter der Migrationslast zusammen, müssen das vor allem die Länder-Regierungschefs ausbaden. Das weiß auch Woidke nur zu genau. Die Ampel sagt er deshalb, habe „zu spät reagiert“.
Und Nancy Faeser sei „skeptisch bei Grenzkontrollen“ gewesen. Was die Erfolgserzählungen des permanent erfolgserzählenden Kanzlers in ihr glattes Gegenteil verkehrt.
Die Grenzkontrollen, die Faeser seit heute angeordnet hat, sind schließlich nicht ihre Idee gewesen – sondern nur unter dem Druck der AfD, der Merz-CDU und der Ministerpräsidenten zustande gekommen, auch der „eigenen“.
Woidke will kein Maulheld sein, er kennt das (Vor)urteil über Wahlkämpfe als Orte der Lüge. Also hat er „seine“ Landräte in Brandenburg zusammengerufen und mit ihnen gemeinsam – und zusammen mit dem Innenminister von der CDU – ein dickes Anti-Migrationspaket gepackt – inklusive Video-Überwachungen zur Gewährleistung der Sicherheit im öffentlichen Raum – eine klare Reaktion auf „Solingen“ und die Messerattentate und Gruppenvergewaltigungen.
In NRW haben die Grünen anders reagiert als in Brandenburg
Dafür, dass Wahlkämpfen auch Zeiten der Wahrheit sein können, spricht die Reaktion der Grünen. Die sitzen mit Woidke am Kabinettstisch, angesichts schwindsüchtiger Umfragen kann man sagen: noch.
Gleichwohl zog es die grüne Integrationsministerin Ursula Nonnenmacher vor, zur Konferenz des Ministerpräsidenten und seines Innenministers mit den – laut Landesverfassung mächtigen – Landräten gar nicht erst zu erscheinen. Auch ein Akt der Offenheit.
Ein bemerkenswerter Vorfall gleichwohl, bei dem sich die Grünen, obwohl Bestandteil der Regierung, quasi selbst aus der Regierung nahmen. Woidke reagierte kurz und trocken: Es helfe nichts, bei diesem Thema den Kopf in den Sand zu stecken – „die Realität nicht zur Kenntnis zu nehmen, war noch nie gut“.
In Nordrhein-Westfalen haben die Grünen ganz anders reagiert als in Brandenburg: Dort stimmten sie einem verschärften Sicherheitspaket zu. Es gilt in Nordrhein-Westfalen als Deal: Hätten die Grünen dem von der CDU des Regierungschefs Hendrik Wüst entwickelten Plan nicht zugestimmt, ihre Flüchtlingsministerin Josefine Paul wäre nach den „Solingen“-Pannen ihres Ministeriums wohl herausgeflogen. So durfte sie bleiben.
Woidke kann sich über überraschende Schützenhilfe freuen
Am kommenden Sonntag wird man sehen, wie die Sache ausgeht. Die Grünen krebsen bei fünf Prozent an der Überlebensschwelle herum. Woidke liegt inzwischen weit vor der CDU, aber immer noch drei Prozent hinter der AfD. Bleibt es so, droht Woidke der Zwangs-Ruhestand.
Derweil kann sich der Sozialdemokrat über völlig überraschende Schützenhilfe freuen. Und zwar von seinem sächsischen Nachbarn, dem Ministerpräsidenten Michael Kretschmer von der CDU. Der CDU-Regierungschef über den SPD-Regierungschef:
„Ich wünsche mir sehr, dass wir gemeinsam Verantwortung übernehmen.“ Es riecht nach großer Koalition. Vor allem gegen die AfD, den bisherigen Wahlsieger in diesem Jahr.
Nach einem Bündnis des etablierten Anti-Establishments: Woidke kümmert sich so wenig um Scholz wie Kretschmer um Merz. Mit sowas kann man Wahlen gewinnen, oder besser in diesen unübersichtlichen Zeiten: Überleben.