Analyse von Ulrich Reitz - Auf den letzten Metern erlebt Kamala Harris gefährlichen Armin-Laschet-Moment
US-Präsident Joe Biden nennt die Trump-Anhänger „Müll“. Damit durchkreuzt er brutal die Versöhnungsbotschaft von Kamala Harris und erinnert an Armin Laschet. Ist das der Moment, der die US-Wahl entscheidet?
Die Choreografie für den Wahlkampfhöhepunkt hatte das Team Harris perfekt gewählt, es war eine Dramaturgie wie aus dem Lehrbuch für Wahlsiege. Genau dort in Washington, wo Donald Trump vor drei Jahren seine Anhänger darin bestärkt hatte, Richtung Kapitol zu marschieren, woraus ein Sturm auf die Demokratie wurde, hielt Kamala Harris nun ihre große Abschlusskundgebung.
Es sollte eine grandiose Feier werden. Es wurde ein Fiasko.
Was nicht an der demokratischen Präsidentschaftskandidatin lag. Sondern an ihrem Chef. Seitdem wird auf Social Media und in den großen TV-Stationen herauf und herunter diskutiert, was Joe Biden wohl geritten haben mag, seiner Parteifreundin derart in den Rücken zu fallen.
Biden hat Harris die Show gestohlen - und ihre Botschaft konterkariert
Wahlen sind unberechenbar, noch mehr sind es Wahlkämpfe. Manchmal reicht auch ein Lachen zur falschen Zeit am falschen Ort zur falschen Zeit – Armin Laschets Lacher im Angesicht der Ahr-Katastrophe während der Rede des Bundespräsidenten – um eine Wahl zu entscheiden.
Das war seinerzeit in Deutschland der Wendepunkt, der Olaf Scholz aus einer aussichtslosen Position ins Bundeskanzleramt trug. Hat Harris nun gerade in Washington ihren Turning Point erlebt, den kleinen Moment, der eine Wahl im Finish entscheidet?
Joe Biden, noch bis Januar im Amt, hat seiner erhofften demokratischen Nachfolgerin, die in deutschen Medien beinahe schon in religiösen Dimensionen – als Heilsbringerin – gefeiert wurde und wird, die Show gestohlen. Harris große Botschaft war und ist: Donald Trump ist der Spalter Amerikas, sie die Versöhnerin.
Nun fragen sie sich: Warum hat Biden nicht einfach geschwiegen?
Ihre Rede in Washington wollte sie als Schlussbotschaft verstanden wissen, als letzte Aufforderung an die Zögernden im eigenen Lager oder die Wechselbereiten von der republikanischen Seite, sich für sie zu entscheiden: „Donald Trump hat ein Jahrzehnt damit verbracht, das amerikanische Volk zu spalten und Angst untereinander zu schüren. So ist er. Aber Amerika, ich bin heute Abend hier, um zu sagen: So sind wir nicht.“
Und dann macht Joe Biden, der demokratische Amtsinhaber, das Gegenteil dessen, was Harris empfiehlt – Biden spaltet, anstatt zu versöhnen. Und nun fragen sie sich in den Staaten: Weshalb hat der US-Präsident nicht einfach geschwiegen?
Völlig unpräsidentiell, geradezu rüpelhaft, nannte er die Trump-Anhänger: „Müll“ (garbage). Es war Bidens alter Fehler – wenn die Emotionen mit ihm durchgehen, hat der Mann sich nicht im Griff. Biden reagierte auf die Äußerung eines Comedians auf einer Wahlveranstaltung der Republikaner. Der hatte Puerto Rico, quasi eine amerikanische Außenstation, als „Müll“-Insel beleidigt.
Kurz darauf versuchte Bidens Team, die peinliche, überflüssige, vor allem aber für die Demokraten gefährliche, Wählerbeschimpfung wieder einzufangen. Biden habe etwas anderes gemeint. Aber es half nichts – alle TV-Stationen brachten den Rede-Ausschnitt des US-Präsidenten im Originalton. Und der lässt milde Interpretationen nicht zu.
Bidens Fauxpas hat einen unrühmlichen Demokraten-Vorgänger
Fatal für Präsidentschaftskandidatin Harris: Bidens Wählerbeleidigung steht nicht im luftleeren Raum. Sie hat einen unrühmlichen Vorläufer.
Im September 2016, wenige Wochen vor der damaligen US-Wahl, erklärte die demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton die Trump-Anhänger arrogant zu einem „Haufen von Jämmerlichen“ („basket of deplorables“).
Womit sie für den republikanischen Kandidaten Trump zur Kronzeugin wider Willen wurde – zum lebenden Beweis für die elitäre Arroganz und Abgehobenheit der Linken vor allem von den „einfachen Leuten“, die sie wählen sollen. Genau das war Trumps Haupt-Wahlkampfthema – und lieferte ihm seine Gegnerin die tödliche Munition für seinen Kampf.
Clintons Wählerbeleidigung war seinerzeit kein Ausrutscher, die Demokratin hatte Lacher im Publikum, sie führte vielmehr absichtsvoll weiter aus, was sie mit „deplorables“ meinte – sexistische, homophobe und islamfeindliche Menschen, kurzum eine nicht nur soziale, sondern auch mentale Unterschicht - ungebildet, rassistisch, vorurteilsbeladen. Auf deutsch: Asis.
Denen sie die klassische linke Erzählung von den „Guten“ gegenüberstellte, den Gebildeten, Aufgeschlossenen, Globalisierungsaffinen. Clinton ernannte sie zu Vertretern des wahren Amerika. Womit sie glatt eine Hälfte der Bevölkerung beleidigend ausschloss.
Was zeigt: Schon vor acht Jahren war es falsch, allein Trump für die gesellschaftliche Polarisierung im Land verantwortlich zu machen – für Verhältnisse also, vor denen inzwischen die Linke, SPD und Grüne, auch in Deutschland warnt.
Bidens Äußerungen sind für Trump wie ein unverhoffter politischer Elfmeter
Für Trump waren Bidens aktuelle Äußerungen wie ein unverhoffter politischer Elfmeter: Er, der sich und seine Anhänger von den Demokraten auch mit „Nazi“-Vorwürfen konfrontiert sieht, nutzte die Gelegenheit für eine patriotische Versöhnungsbotschaft auf allen Kanälen: Er werde der Präsident aller Amerikaner sein, gleich welcher Herkunft und Hautfarbe.
Und Harris? Die verschlimmerte die Sache noch, weil sie sich in mehreren Interviews nicht zu einer klaren Distanzierung bereitfand. Sie hätte in die Mikrofone sagen können, Biden habe daneben gelangt, sie selber wolle eine Präsidentin für alle sein, auch die Anhänger Trumps. Allein – bislang jedenfalls fand sie nicht die Kraft dazu. Oder sie wollte es auch nicht.
Und so kann das Trump-Lager verbreiten, so seien sie halt, die Demokraten – ihnen seien die Amerikaner im Kern egal. Was die Angelegenheit noch schlimmer für Harris macht: Selbst in ihr zugewandten Medien wird debattiert, was wohl Bidens Motiv für diese Wählerbeschimpfung der Trump-Anhänger gewesen sein mag?
Wollte er sich rächen – dafür, von Harris und seinem demokratischen Vorgänger Barack Obama, als Präsidentschaftskandidat und sein eigener Nachfolger ausgeschaltet worden zu sein?
Es gibt viele Gründe, die es Harris schwer machen - jetzt noch einen mehr
Es gibt hinreichend viele Gründe, weshalb Harris am kommenden Dienstag die US-Wahlen verlieren kann – die grassierende Inflation, die gerade den Durchschnittsamerikanern das tägliche Leben schwer macht, die rund zehn Millionen illegalen Migranten, die inzwischen zum Top-Wahlkampfthema geworden sind.
Sollte Trump aber tatsächlich gewinnen, werden viele Kommentatoren aufschreiben, woran es gelegen hat, dass die Amerikaner auch weiterhin nicht von einer Frau regiert werden. An diesem einen Moment, als der US-Präsident den Trump-Anhängern, also mehr als 70 Millionen Amerikanern offenbarte, für was er sie hält.
In Deutschland wird man sich dann erinnern, dass wenige Sekunden eine große Wahl entscheiden und damit das Schicksal von Millionen von Menschen bestimmen können.
Es sieht ganz danach aus, als hätte Kamala Harris auf den letzten Metern einen gefährlichen Armin-Laschet-Moment erlebt.