Eine Analyse von Ulrich Reitz - Parteipolitik vor Volk: Warum der Asyl-Gipfel nicht beschließt, was vernünftig wäre

Menschen in einer Flüchtlingsunterkunft (Symbolbild).<span class="copyright">Bild: dpa</span>
Menschen in einer Flüchtlingsunterkunft (Symbolbild).Bild: dpa

Auf dem Asyl-Gipfel von Olaf Scholz dominiert nicht der Wunsch der Wähler, sondern das Kalkül der Parteien. Dabei gäbe es eine Lösung für das Migrationsproblem.

Die zwei linken Frauen haben dem rechten Mann schon mal vorsorglich gesagt, was sie von seiner Idee halten, das Asylthema nun endlich in den Griff zu bekommen: Saskia Esken hält die Vorschläge von Friedrich Merz für verfassungswidrig. Ricarda Lang glaubt nicht, dass die Menschen wegen der Migrantenfrage AfD und BSW gewählt haben. Woraufhin der schwarze Mann Richtung rot-grüner Frauen erklärte, bleibe es dabei, dann handle es sich um dem letzten „Stuhlkreis“, dem er beiwohnen werde.

An der Seite von Merz findet sich in neuerdings schwarz-gelber Stuhlkreis-Nachbarschaft der Bundesfinanzminister von Olaf Scholz wieder, und zwar in seiner Eigenschaft als Wahlverlierer. Die „Schnauze voll“ hätten die Leute vom unerledigten Asyl-Thema, sagt Christian Lindner in gewohnt besserverdientem gedeckt-blauem Anzug, aber ungewohnt unbürgerlicher Diktion.

Asyl-Thema ist seit 30 Jahren ungelöst

Kurz zuvor hatte Sozi-„General“ Kevin Kühnert, ein anderer Sonntags-Verlierer, gesagt, seine Partei werde sich von Leuten wie Lindner nicht mehr „auf der Nase herumtanzen“ lassen. Man sieht, die öffentliche Rhetorik nähert sich mit wachsender Nervosität der inneren Befindlichkeit an. Nicht die besten Voraussetzungen jedenfalls, um ein Thema gemeinsam zu lösen, das man über 30 Jahre ungelöst gelassen hat. Wirklich 30 Jahre?

In der Tat. 1993 haben zwei Männer für die vorläufig letzte durchschlagende Lösung gesorgt: Wolfgang Schäuble und Hans-Ullrich Klose. Die beiden Fraktionsvorsitzenden, CDU der eine, SPD der andere, besorgten die Grundgesetzänderung, in der steht:

Wer aus einem anderen sicherer Staat kommt, kriegt in Deutschland kein Asyl mehr. So haben das die Menschen jedenfalls verstanden damals, die politische Linke auch, und deren Medien wetterten entsprechend: Pfui, die Abschaffung des Asylrechts. Heute weiß man: Das war falsch. Aber warum?

Das deutsche Asylrecht wird längst in Europa gemacht

Vereinfacht gesagt: Es gibt kein deutsches Asylrecht mehr. Was dazu im Grundgesetz steht, ist irrelevant geworden. Wie auch Deutschland mit Menschen umzugehen hat, die an der Grenze sagen, sie begehrten Asyl, wird längst nicht mehr in Berlin festgelegt, sondern in Brüssel. Oder in Luxemburg. Kurzum:

Das deutsche Asylrecht wird längst in Europa gemacht. Der Grund dafür wiederum ist die Übertragung von deutschem Recht auf europäische Institutionen. Einerseits. Und andererseits die Rechtsprechung – die europäische wie die deutsche aus Karlsruhe, mit der der Vorrang des europäischen Rechts festgeschrieben wurde.

Zu ergründen, wie es zu dieser deutschen Selbstentmachtung kam, ist nicht einfach. Es hat jedenfalls mit dem damaligen Zeitgeist zu tun: Der Westen hatte den kalten Krieg gewonnen, es war ein Triumph Europas, Nationalstaaten erschienen als Idee, die es sich lohnte völkerverständigend zu überwinden.

Zu dieser Zeit wuchs die Zahl der Flüchtlinge, in der Spitze waren es mehr als heute, 400.000. Wolfgang Schäuble, der Architekt der Grundgesetzänderung von 1993, sagte, das Thema lasse sich am Ende nur europäisch lösen. Dieser Meinung waren auch seine Nachfolger als deutsche Innenminister: Rudolf Seiters und Manfred Kanther.

Europäisches Asylrecht unter deutscher Verhandlungsführung

So entstand – unter deutscher Verhandlungsführung, Stück für Stück ein europäisches Asylrecht, den deutschen bürokratischen Verfahrensregeln folgend. Das Ziel war: weniger Asylbewerber nach Deutschland. Ein paar Jahre hat das funktioniert, dann wurden es mehr. Viel mehr. Verantwortlich dafür war wieder ein deutscher Politiker: Angela Merkel.

Wenn man heute auf diesen Asyl-Gipfel schaut, sollte man die Entstehungsgeschichte des Migrationsproblems nicht aus den Augen verlieren. CDU-Innenminister haben daran gewerkelt, eine CDU-Kanzlerin hat zuerst die Deutschen und mit ihnen dann die Europäer mit ihrer Idee von den offenen Grenzen überrumpelt. Nun ist es ein CDU-Kanzler im Wartestand, der alles das wieder zurückdrehen will: Friedrich Merz.

Merz verlangt von den Grünen einen Bruch mit den Grünen

Merz verlangt von den Grünen einen Bruch mit den Grünen und von den Roten einen Bruch mit den Roten. Diese Zumutung rechtfertigt er mit einem eigenen Bruch: dem mit Merkel. Merz formuliert es an die Adresse von Scholz so: Wenn er mit Merkels Asylpolitik breche, dann könne doch Scholz auch mit der seiner SPD brechen. Die Grünen dito.

Rote und Grüne wollen sich dieser fürsorglichen Belagerung entziehen. Sie haben sie schließlich nicht bestellt – weshalb sollten sie ein Gericht verzehren, das sie nicht geordert haben? Nun – wegen der AfD vielleicht?

An dieser Stelle hilft ein Blick auf den Wahlkalender. Sachsen und Thüringen sind gelaufen, fehlt noch Brandenburg. Während die SPD rund um Dresden und Erfurt chancenlos war, ist die Lage rund um Potsdam anders:

Hier legte die nordrhein-westfälische SPD-Ikone Johannes Rau den Grundstein dafür, dass Brandenburg sozialdemokratisches Stammland werden konnte. Dieser Zustand währt seit nunmehr als 30 Jahren. Und Amtsinhaber Dietmar Woidke kann auf Fortsetzung hoffen, jedenfalls, falls Olaf Scholz nicht noch den Versuch unternimmt, dem Genossen dabei zu helfen. Woidke hat den Kanzler barsch von Hilfe ausgeschlossen.

SPD und Grüne können ihren Parteien jetzt den Vorrang geben

Nach Brandenburg steht auf dem Wahlkalender nur noch Hamburg vor der Bundestagswahl – mit anderen Worten: Nichts, worauf ein Sozialdemokrat aus Hamburg im Kanzleramt auf der Suche nach einem besseren Asylrecht Rücksicht nehmen müsste. Hart formuliert:

SPD und Grüne können, weil vor der Bundestagswahl keine weiteren großen Wahlen mehr drohen, ihren Parteien jetzt den Vorrang geben vor dem Wahlvolk. Zumal Olaf Scholz einige Argumente auf seiner Seite hat, um zu sagen, was er immer sagt: Er unternehme alles Notwendige und dann werde es auch gut.

Eine durchschlagende Lösung des Migrationsproblems, aus dem sich inzwischen nicht nur die AfD nährt, sondern auch das BSW, lässt sich so allerdings nicht erreichen – nicht jetzt jedenfalls, nicht auf diesem Asyl-Gipfel. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute:

Das Problem wäre tatsächlich zu lösen. Nicht nur, weil Dänemark und Schweden inzwischen gezeigt haben, wie man sich selbst auch als wackerer Sozialdemokrat aus der Migrationsfalle befreien kann. Sondern, weil kluge Menschen es längst vor- und durchdacht haben. Zum Beispiel Daniel Thym.

Was Merz vorgeschlagen hat ist legal

Der beschäftigt sich, inzwischen Lehrstuhlinhaber in Konstanz, seit 20 Jahren mit dem Thema, unter nationalen wie europäischen Aspekten. Wer mit Thym darüber spricht, weiß danach, wie es am Ende funktionieren kann, kurz gesagt:

Was Merz vorgeschlagen hat (Zurückweisung von Dublin-Flüchtlingen unter Zuhilfenahme einer „Notlage“) ist legal, anders als Esken denkt. Allerdings hilft das nur kurzfristig, ebenso wie die von Olaf Scholz zugestandene Kürzung von Sozialleistungen für abgelehnte „Dublin“-Asylbewerber.

Die eigentliche Lösung aber kann nur danach stattfinden: In Europa darf es keine Ketten-Asylverfahren mehr geben, sondern nur noch einen Antrag in einem Land. Am besten, die Verfahren werden in Drittstaaten ausgelagert („Ruanda-Lösung“). Aber:

Die Europäer machen nicht nur die Grenzen dicht – darauf läuft es für Thym ohnehin hinaus, der innenpolitische Druck in den Mitgliedsländern lässt etwas anderen als eine „Festung Europa“ gar nicht mehr zu. Sondern: Sie machen ihre Grenzen auch wieder auf:

Für jene Flüchtlinge, die sie sich selbst ausgesucht haben. Das wäre dann die Kombination aus „Humanität und Ordnung“. Und dann:

Erst dann würde wahr, was Olaf Scholz jetzt in so gut wie jedem Interview – realitätswidrig – verspricht: dass Deutschland sich selbst aussuchen kann, welcher Migrant ins Land darf.

Den gesamten Talk mit FOCUS-online-Chefkorrespondent Ulrich Reitz und Daniel Thym sehen Sie hier .