Analyse von Ulrich Reitz - Scholz will die Ampel retten – doch in Berlin kursiert schon ein brisantes Szenario
In drei Runden will Olaf Scholz nicht nur die Koalition retten. Sondern auch sein eigenes politisches Ende abwenden. Denn ein anderer Sozialdemokrat könnte von einem Ampel-Ende profitieren, denken viele in Berlin. Aber haben sie Recht?
In Berlin machen gerade brisante Erzählungen die Runde, die Nervosität ist groß. Eine jedenfalls lautet: Falls die Regierung Scholz scheitert , könnte vor allem die SPD davon profitieren. Und mit ihr und für sie ein Mann besonders, der nicht Olaf Scholz heißt.
Herfried Münkler ist sicher kein Kanzlerfreund. Dafür aber SPD-Mitglied. Olaf Scholz nennt der Politikwissenschaftler aus Berlin lange schon einen klassischen „Übergangskanzler“.
Auch für die aktuelle Lage hat Münkler eine stimmige Analyse parat: Scholz habe nicht begriffen, dass es in einer solchen Situation in einer solchen Koalition darauf ankomme, „einen charismatischen Part zu spielen“. In der Tat: Ein Kanzler mit einer Ausstrahlung von Helmut Schmidt etwa hätte zumindest eine große Chance, durch eine überzeugende Persönlichkeit und mitreißende Rhetorik so manche operativen Unzulänglichkeiten und Fehler zu überstrahlen.
Der Kanzler will die Ampel retten – aber er strahlt nicht
Aber Scholz strahlt eben nicht. Mehr noch: Der sozialdemokratische Kanzler hat das Nicht-Strahlen zur Tugend erhoben. Er nennt es – nicht nur bei der Ukraine – „Besonnenheit“. In Münklers Worten: Charisma sei eine Eigenschaft, „der Scholz vom Typ her nicht genügt“.
Die neueste Version, die durchs Regierungsviertel kreist, lautet: So wie Kamala Harris den offenkundig senilen Joe Biden als Regierungschef quasi in letzter Minute als neue Präsidentschaftskkandidatin abgelöst hat, so ließe sich auch Scholz als Regierungschef-Kandidat noch kurz vor einer Wahl ablösen.
Das Beispiel USA ist eine Referenz für eine Ablösung des glück- und erfolglosen und weitgehend ausstrahlungsfreien Kanzlers durch Boris Pistorius. Eine andere sind die Umfragen, die praktisch seit dem Regierungseintritt von Pistorius eindeutig sind: Der sozialdemokratische Mann aus Osnabrück ist die Nummer Eins im Beliebtheitsranking der Deutschen.
Scholz durch Pistorius ersetzen? Eine brisante Erzählung macht die Runde
Wobei es für die meisten Deutschen offensichtlich unerheblich ist, was Pistorius geleistet hat, um einen solchen Ruf zu begründen. Pistorius' Umfragen-Karriere demonstriert nicht die Macht der Fakten, sondern widerlegt sie. Sie zeigt die Macht der Kommunikation über die Macht der Fakten.
Pistorius kommuniziert authentisch, er schwurbelt nicht, sein gesamtes Auftreten signalisiert, er ist ein Mann der Ernsthaftigkeit und er weiß, was zu tun ist. Das Urteil ist mindestens fragwürdig. Bis heute weiß man nicht, wie der Verteidigungsminister wirklich denkt in einer der wichtigsten geostrategischen Fragen – der Belieferung der Ukraine mit Marschflugkörpern vom Typ Taurus.
Und in der SPD hat er kaum Bataillone, im Gegenteil: Der mächtige SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich hat Pistorius und dessen Wünsche nach viel mehr Geld für die Bundeswehr und nach Drohnen, ohne die moderne Kriege – siehe Ukraine – nicht funktionieren, längst eingebremst.
Pistorius gehört dem Bundestag nicht an. Und: Pistorius ist auch nicht Mitglied der SPD-Führung. Weder in der Fraktion noch in der Partei verfügt er über eine schlagkräftiges Offizierkorps. Ein Mann von großer Überzeugungskraft, aber ohne Macht.
Sigmar Gabriel braucht bei Miosga nur einen Satz
Geht es allein nach den Umfragen, wäre die Sache klar: Der neue Bundeskanzler hieße Friedrich Merz, CDU. Und Boris Pistorius wäre sein Vize, weil es, Stand jetzt, nur für eine Große Koalition reicht. Darüber gibt es zwar keine Erhebungen, aber: Vermutlich würden viele Deutsche die Kombination Merz/Pistorius an der Regierungsspitze besser finden als die Chaos-Koalition aus Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner.
Ein weiteres spricht aus Sicht der SPD-Abgeordneten für einen Austausch der Kanzlerkandidaten im Fall eines vorzeitigen Regierungsendes: Mit Pistorius könnten 30 bis 40 Prozent mehr sozialdemokratische Bundestagsmandate erhalten bleiben als mit einem Kanzlerkandidaten Scholz. Denn der hatte schon bei seiner Wahl zum Kanzler kaum eigene Zugkraft – seine Wahl verdankt er in erster Linie der Schwäche des CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet.
Allerdings brauchte der sozialdemokratische Altmeister Sigmar Gabriel, längst emanzipiert von der eigenen Partei, der er viele Jahre vorstand, bei Miosga nur einen Satz, um die Pistorius-Erzählung zu widerlegen: „So funktioniert Politik nicht“.
Eine High-Noon-Situation in Berlin kurz nach der US-Wahl
Drei Kanzler-Runden gibt es jetzt bis zum Mittwoch, an dem der Koalitionsausschuss tagt. Eine dramaturgisch reizvolle Konstellation zeichnet sich ab: Wenn es in Washington einen neuen amerikanischen Präsidenten gibt, kommt es Berlin zu einer High-Noon-Situation. Und sollte es für Donald Trump als neuer Nummer Eins gereicht haben, wird von diesem Moment an nur noch eine Frage dominieren in Berlin: Wie muss eine Regierung in Berlin aussehen, damit sie Donald Trump standhält?
Allein diese Frage ist ein Grund dafür, weshalb sie in der Ampelregierung Kamala Harris alle Daumen drücken, was nachvollziehbar ist. Ein US-Präsident Donald Trump würde erstens Europa alt aussehen lassen, denn der alte Kontinent ist zerstritten wie nie. Und zweitens Deutschland, für das dieser traurige Befund ebenfalls gilt.
Allerdings: Wird es am Ende darauf überhaupt ankommen? Oder ist die Angst vor Neuwahlen wichtiger als die Furcht vor Trump, dessen Satz „the Germans didn't love me“ als handfeste Drohung gelesen werden muss?
Aus Regierungssicht spricht vieles gegen Neuwahlen
Während die Bevölkerung inzwischen mehrheitlich für ein vorzeitiges Ende der Regierung und für Neuwahlen optiert, spricht aus Regierungssicht eine Menge dagegen.
Scholz, der sich selbst als optimalen Kanzler sieht, müsste sein Scheitern eingestehen. Und die Ampel müsste begehen, was Gabriel „Selbstmord aus Angst vor dem Tod“ nennt.
Die Grünen stehen mit dem angeblichen Kommunikationswunder Robert Habeck als wahrscheinlichen Kanzlerkandidaten so schlecht da wie seit Jahren nicht mehr. Kein Wunder: Habeck wird in der Bevölkerung mit dem „Heizungsgesetz“ verbunden und der Zeitgeist ist inzwischen antigrün.
Und die Liberalen müssen der Bevölkerung, mit den Jahren dem freiheitlichen Denken entwöhnt, die Frage beantworten, wofür man sie noch braucht. Christian Lindners 18-Seiten-Papier mag Antworten liefern, die mittelständische Unternehmer und ordoliberale Wirtschaftsprofessoren überzeugen.
Aber Lindner selbst will seine Thesen nicht als Ultimatum an die Ampel verstanden wissen, sondern lediglich als Diskussionsgrundlage für eine Wirtschaftswende. Dahinter steckt auch eine machiavellistische Einsicht: Die FDP kann diese Wende nicht erzwingen. Ihre strategische Funktion als „Königsmacher“ hat sie lange schon verloren.
Verglichen mit Schmidt ist Pistorius ein Novize
Lindners Papier vom Herbst 2024 ist überhaupt nicht vergleichbar mit dem Lambsdorff-Papier vom Herbst 1982. Damals konnte die FDP noch selbst den Kanzler wechseln, heute sind die Zeiten vorbei.
Und Helmut Schmidt, an den viele denken, wenn sie Pistorius sehen und hören, war 1974 beim Sturz Willy Brandts als Kanzlerreserve die Nummer Eins. Er hatte sich in der SPD über viele Jahre hinweg längst eine Stellung erkämpft, von der die Kommunikations-Nummer-Eins Pistorius noch weit entfernt ist.
Verglichen mit Schmidt ist Pistorius ein Novize.