Andreas Heinemann-Grüder - Selenskyjs „erster Fehler“: Experte ordnet Regierungs-Beben in der Ukraine ein
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj baut sein Kabinett um - mitten in einer schwierigen Situation. Eine überraschende Maßnahme, die der Ukraine-Experte Andreas Heinemann-Grüder von der Universität Bonn einordnet.
In Kiew folgte in den letzten Tagen ein politisches Erdbeben dem nächsten. Insgesamt neun Minister reichten ihren Rücktritte ein, darunter auch Außenminister Dmytro Kuleba. Allerdings ist noch nicht klar, ob das Parlament alle Rücktrittsgesuche auch tatsächlich annimmt.
Dennoch kommt der Regierungsumbau zu einem kritischen Zeitpunkt: Das Überraschungsmoment der Kursk-Offensive ist verflogen, die Lage im Donbass weiter kritisch und die Bevölkerung schaut wegen der schweren Schäden an der Energieinfrastruktur mit Sorge auf den kalten Winter.
Politikwissenschaftler: Regierungsumbau ist „Ausbruchsversuch“ Selenskyjs
Für Politikwissenschaftler Andreas Heinemann-Grüder von der Universität Bonn ist der Umbau daher ein Zeichen dafür, dass Selenskyj und seine Regierung stark unter Druck stehen. Er sieht in dem Umbau einen Versuch Selenskyjs, diesen Druck zu senken: „Selenskyj hat einen Ausbruchsversuch gemacht“, erklärt der Experte vom „Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies“ in Bonn im Gespräch mit FOCUS online.
Es sei eine „symbolische Politik“, die dort umgesetzt werde, „ein Versuch der Wahrheit nicht ins Auge zu blicken“. Strukturelle Probleme, wie beispielsweise der Umgang mit Veteranen, würden auf einzelne Minister abgeschoben. Aber der Ukraine-Experte betont: „Der Austausch löst die Probleme nicht.“
„Es gibt eine gewisse Ähnlichkeit im Modus Operandi zwischen Putin und Selenskyj“
Für Heinemann-Grüder ist der Regierungsumbau auch Ausdruck einer wachsenden autoritären Tendenz der ukrainischen Führung um Selenskyj. Das Kabinett sei „vollkommen abgegrenzt von der Präsidialverwaltung“. Dadurch würden „Sollbruchen sichtbar“. Auch das Parlament trete seltener zusammen, darüber hinaus sei Selenskyj nur noch von einem kleinen Beraterkreis umgeben.
Der Austausch der Minister sowie die Absetzung des Oberkommandierenden der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, im Vorjahr erinnere in Teilen auch an Maßnahmen, die der russische Präsident Wladimir Putin durchsetze: „Es gibt eine gewisse Ähnlichkeit im Modus Operandi zwischen Putin und Selenskyj“, stellt Heinemann-Grüder fest.
Begründungslage für Regierungsumbau bislang „außerordentlich dünn“
Die Erklärung des Regierungsumbaus sieht der Politikwissenschaftler kritisch. Die Begründungslage für die Maßnahmen sei bislang „außerordentlich dünn“, so der Experte.
Er kritisiert, dass der Umbau besser hätte kommuniziert werden müssen. Dass das bisher nicht der Fall ist, beschreibt Heinemann-Grüder als den „ersten Fehler in der bisher guten Informationspolitik Selenskyjs“.