Angeblicher Taliban-Mord an Volleyballspielerin: Was wirklich über den Fall bekannt ist

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel thematisiert Suizid. Suizidgedanken sind häufig eine Folge psychischer Erkrankungen. Letztere können mit professioneller Hilfe gelindert und sogar geheilt werden. Wer Hilfe sucht, auch als Angehöriger, findet sie etwa bei der Telefonseelsorge unter der Rufnummer 0800 – 1110111 und 0800 – 1110222. Die Berater sind rund um die Uhr erreichbar, jeder Anruf ist anonym und kostenlos.

Der Tod von Mahjabin Hakimi wirft Fragen auf - die Taliben waren aber vermutlich nicht verantwortlich (Bild: Twitter)
Der Tod von Mahjabin Hakimi wirft Fragen auf - die Taliben waren aber vermutlich nicht verantwortlich (Bild: Twitter)

Aus Afghanistan kommen nahezu täglich Berichte über Gräueltaten der Taliban, an der Brutalität der Islamisten besteht kein Zweifel. Eine Nachricht, die seit der vergangenen Woche besonders weite Kreise gezogen hat, ist jedoch eine Falschmeldung.

Darin wird den Taliban vorgeworfen, in Kabul eine junge Volleyball-Spielerin enthauptet zu haben. Über den Tod von Mahjabin Hakimi berichtete zuerst "Independent Persian" unter Berufung auf eine Trainerin der afghanischen Volleyball-Nationalmannschaft. Die erklärte, Hakimi sei wohl Anfang Oktober getötet worden. Genaueres wisse nur ihre Familie, doch die würde nicht reden, da die Taliban sie bedroht hätten. Über den vorgeblichen Grund der Taliban sagte die Trainerin nichts, schilderte jedoch, dass alle im Land verbliebenen Spielerinnen große Angst hätten und die Islamisten nach ihnen suchten.

Zusammenfassungen der Meldung verbreiteten sich danach auf Twitter rasant, oftmals zusammen mit zwei Fotos Hakimis, einmal mit ihrer Mannschaft und einmal auf einem Fahrrad. Zudem kursiert ein Foto, das ihre Leiche zeigen soll. Diese weist eine große Wunde um den Hals auf, allerdings ist nicht ersichtlich, dass der Kopf abgetrennt ist. Die Beiträge weichen in Details teilweise voneinander ab, so heißt es manchmal, sie sie getötet worden, da sie ihren Sport nicht aufgeben wollte, und manchmal, dass sie beim Fahrradfahren in den Augen der Taliban unzureichend verschleiert gewesen sei.

Schon früh gab es auch Beiträge, in denen die Täterschaft der Taliban bestritten wurde. Afghanische Journalisten berichteten, dass Hakimi bereits vor dem Fall Kabuls im August gestorben sei. Einige zitierten Familienmitglieder, denen zufolge sie Suizid begangen habe. Diese Postings bekamen weitaus weniger Aufmerksamkeit oder wurden aufgrund der von "Independent Persian" erwähnten Bedrohung der Familie angezweifelt: Die Geschichte vom Suizid diene eben nur der Vertuschung, hieß es dann häufig.

Die Version der Ermordung durch die Taliban verbreitete sich unterdessen immer weiter und wurde von einigen internationalen Medien aufgegriffen, darunter die "New York Post", die britische "Daily Mail" und in Deutschland unter anderem "Merkur" und "Express". Nahezu alle Berichte und Postings bezogen sich dabei weiterhin auf den ursprünglichen Beitrag von "Independent Persian". Die italienische Volleyball-Liga legte bei ihren Spielen am vergangenen Wochenende eine Schweigeminute ein.

Anfang der Woche veröffentlichte dann das afghanische Frauen-Nachrichtenportal "Rukshana Media" eine ausführliche Recherche über den Tod Hakimis, die ein neues Licht auf den Fall und seine Widersprüche wirft. Journalistin Zahra Nader sprach dafür mit Angehörigen und Freundinnen der Toten sowie Ermittlern.

Zur Zeit ihres Todes war Mahjabin Hakimi 25 Jahre alt. Sie war eine Hazara aus der Provinz Ghazni und lebte in Kabul bei der Familie ihres Verlobten Majeed. Bis 2020 diente sie in einer Spezialeinheit der afghanischen Armee. Sie hatte damit allen Grund, wegen des Vormarsches der Taliban besorgt zu sein und bereits ein Spezialvisum für das Evakuierungsprogramm der USA beantragt. Doch sie starb bereits am 6. August, mehr als eine Woche bevor die Islamisten in Kabul einrückten.

An diesem Tag wollten die befreundete Polizistin Taibar Sahar und eine weitere junge Frau Hakimi im Haus ihrer zukünftigen Schwiegereltern besuchen. Ihr Zimmer war jedoch leer und ungewohnt aufgeräumt, wie Sahar "Rukhshana" berichtete. Dann ertönte ein Schrei der zukünftigen Schwiegermutter aus dem Badezimmer. Dort fanden sie Hakimi mit einem Schal am Fenster erhängt vor.

Der Polizistin Sahar fielen sofort einige Ungereimtheiten auf: "Sie hatte Verletzungen am Hals und unter ihrem Kinn, die nicht zu dem Schal passten", erklärte sie. Dafür habe es keine Anzeichen für irgendwelche Bewegungen im Todeskampf gegeben. Auch die Familie des Verlobten machten sich schnell verdächtig: Ein Verwandter habe Hakimis Freundinnen gebeten, dass sie der Polizei gegenüber behaupten sollten, die junge Frau zuvor noch lebend gesehen zu haben.

Die zuständigen Ermittler teilten offenbar das Misstrauen, der Verlobte wurde festgenommen und gegen Kaution wieder freigelassen. Mehrere Parteien berichteten "Rukshana" von Konflikten in der Beziehung. So sei der Verlobte gegen die Umsiedlung in die USA gewesen.

"Ich habe mit ihr am Tag vor ihrem Tod telefoniert", berichtete Hakimis Mutter Aqela. "Sie erzählte mir, dass ihr Visum für die USA in Bearbeitung sie, aber ihr Verlobter nicht mit ihr dorthin wolle". Dieser sei es auch gewesen, der Hakimi dazu gedrängt hatte, ihren Beruf als Soldatin aufzugeben, wie ein Verwandter des Verlobten einräumte: "Er sagte ihr, 'wenn du mit mir zusammenleben willst, musst du die Special Forces verlassen'". Doch eine Woche vor ihrem Tod habe Hakimi Sahar erzählt, dass sie wieder arbeiten wolle und bat die Freundin darum, nach freien Stellen bei der Polizei Ausschau zu halten. Das Konfliktpotenzial war ihr offenbar bewusst: "Sie sagte, sie werde ihren Verlobten überzeugen", berichtete Sahar.

Mit der Machtübernahme der Taliban Mitte August kamen die Ermittlungen im Fall Hakimi zu einem abruptem Ende. Alle bisherigen Ergebnisse seien vernichtet worden, sagte ein Beamter "Rukhshana". Die Familie des Verlobten hält daran fest, dass Hakimi sich das Leben genommen habe, er selbst äußerte sich nicht. Ihre Eltern, die schon eine andere Tochter durch Suizid verloren haben, zweifeln an dieser Darstellung. Sie leiden sehr unter der Ungewissheit und suchen weiter nach Antworten. "Ich will wissen, was meiner Tochter zugestoßen ist. Selbst wenn es wirklich Suizid war, will ich den Grund erfahren", sagt ihr Vater Sarwar Hakimi.

Doch auch die Verbreitung der Falschmeldung über den Tod seiner Tochter bereitet ihm Sorgen: "Wir haben uns schon durch die Taliban bedroht gefühlt, weil Mahjabin bei den afghanischen Special Forces gearbeitet hat. Aber die Lüge, die in den Medien über ihre Enthauptung durch die Taliban verbreitet wurde, bringt uns noch mehr in Gefahr."

Video: Afghanische Frauen - Warum schweigt die Welt?