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"Wer Angst hat, soll zu Hause bleiben": Wolfgang Kubicki mit knallharter Corona-Ansage bei "Anne Will"

"Am Timmendorfer Strand erlebe ich, dass die Leute den Abstand einhalten": Laut FDP-Mann Wolfgang Kubicki ist in Corona-Deutschland trotz steigender Reproduktionszahl so weit alles im Lot. Eine Max-Planck-Forscherin hält dagegen: Wir seien unterwegs in einen chronischen Krisenzustand.

Noch interessanter als die Fragen, die in deutschen Talkshows gestellt werden, sind manchmal die Fragen, die nicht gestellt werden. Im Fall "Anne Will" darf man darüber grübeln, welcher Nachrichtenlage die Redaktion der Sendung im Laufe des Sonntags Beachtung geschenkt hat.

Die sogenannten "Hygiene-Demos", auf denen in zahlreichen deutschen Großstädten die Pandemielage als politisch und medial aufgebauscht bezeichnet wird, kann es nicht gewesen sein. Dass etwa in Gera Thüringens Drei-Tage-Ministerpräsident Thomas Kemmerich Seite an Seite mit Rechtsextremen und Verschwörungstheoretikern marschiert ist, um gegen Eindämmungsmaßnahmen zu protestieren, ist eigentlich eine Talkshow-Steilvorlage, die Anne Will in den Lauf ihres Gastes Wolfgang Kubicki hätte passen können. Zu gerne hätte man gewusst, wie der Liberale, der selbst so vehement auf Bürgerrechte pocht, den hoch umstrittenen Freiluftauftritt seines Parteifreundes bewertet. An diesem Abend im Ersten erfuhr man die Antwort leider nicht.

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"Deutschland macht sich locker - ist das Corona-Risiko beherrschbar?", titelte der vom NDR produzierte Talk auf dem gewohnten Premium-Sendeplatz nach dem "Tatort". Premium-Erkenntnisse blieben diesmal allerdings aus. Auch wenn die Moderatorin eingangs den Anstieg der viel diskutierten Virus-Reproduktionszahl auf zuletzt 1,13 mahnend in die Runde stellte. Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, gab darauf zu Protokoll: "Wir haben mit Umsicht gehandelt in den Bundesländern." Dass das Robert Koch-Institut aufgrund des über die kritische Marke von 1 gestiegenen R-Werts in Alarmstellung ist, schockt sie nicht. "Ich verlasse mich mehr auf unsere eigenen Gesundheitsämter", zeigte sich die SPD-Frau als überzeugte Föderalistin.

Kubickis beruhigende Erkenntnisse vom Timmendorfer Strand

Auch FDP-Mann Kubicki kommt die R-Zahl irgendwie nicht plausibel vor. Die Fallzahlen seien doch insgesamt so niedrig. "Massive Grundrechtseinschränkungen" seien da nicht mehr angemessen. Und dann sprach der Bundestagsvizepräsident den wohl kühnsten Satz des Abends: "Wer Angst hat, soll zu Hause bleiben." Kaum zu glauben: Er blieb tatsächlich unwidersprochen, ja sogar unhinterfragt. Dabei hätte man das zu gerne genauer erklärt bekommen, wie die Corona-Schisser das im Alltag lösen sollen mit der Selbstkasernierung, während die Grundrechtswahrer draußen die Marktplätze erobern.

Immerhin: Ob er das Vertrauen in die Eigenverantwortung der Menschen nicht überschätze, wurde Kubicki von der Gastgeberin tatsächlich gefragt, als würde die Antwort einem Vorzeige-Liberalen schwerfallen. Aber natürlich nicht, so Kubicki, sonst müsse man ja gleich den Menschen das Wahlrecht entziehen. Spätestens hier wäre ein Verweis auf Tausende die Abstands- wie die Maskenpflicht ignorierende Demonstranten in deutschen Metropolen angebracht gewesen. So aber durfte Kubicki Beruhigendes aus der Weltsicht des Wohlstandsgewinners berichten: "Am Timmendorfer Strand erlebe ich, dass die Leute den Abstand einhalten." Na, dann kann ja nichts mehr schiefgehen!

Max-Planck-Forscherin: "Das wäre die chronische Form der Coronakrise"

Hätte man jedenfalls kurz denken können, wäre nicht aus Hannover eine junge Physikerin zugeschaltet gewesen, die sich beruflich mit Computermodellierungen für die Verbreitung des Coronavirus beschäftigt. "Wir brauchen Vertrauen", hob Viola Priesemann vom Max Planck Institut in Göttingen an und stellte sich die passenden Anschlussfragen vorsichtshalber selbst: "Wie schafft man Vertrauen? Indem man die Pandemie unter Kontrolle hat. Wie bekommt man die Pandemie unter Kontrolle? Indem man die Anzahl Neuinfektionen so weit runterbringt, dass Nachverfolgung möglich ist."

Was die Forscherin sodann schilderte, müsste eigentlich ein Stich ins Herz sein für alle Menschen, die schon zuvor das Gefühl hatten, Deutschland sei zu früh von der Lockdown-Bremse gegangen. Wenn die Reduktion der Corona-Fallzahlen so weitergegangen wäre wie während der Lockdown-Maßnahmen, wäre man ihren Berechnungen zufolge Mitte/Ende Mai bei nur noch 300 neuen Fällen pro Tag gelandet. Eine solche Zahl nachzuverfolgen, so die Forscherin, wäre für die Gesundheitsämter "ein Kinderspiel", sogar ohne die notorische Tracking-App, in deren banger Erwartung Wolfgang Kubicki laut Eigenauskunft "halb wahnsinnig" wird.

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Flächendeckend testen, damit neue "Brandherde" umgehend entdeckt werden können - das wäre laut Viola Priesemann die zweite Stellschraube, die es braucht, um das Infektionsgeschehen dauerhaft unter Kontrolle zu bringen und die Menschen wieder zu angstfreiem Konsum zu verleiten. Ansonsten müsse man "mittelfristig mit unkontrollierten Ausbrüchen rechnen", mit allen wirtschaftlichen und sozialen Folgeschäden, die das mit sich bringe. "Das", so die Göttingerin, "wäre die chronische Form der Coronakrise".

Kubicki schimpft über Heim-Zustände: "Das ist wie Einzelhaft"

Auf die Notwendigkeit flächendeckender Tests vor allem in Pflege- und Senioreneinrichtungen konnten sich indes fast alle Teilnehmer der "Anne Will"-Runde einigen. Die Lebensbedingungen betagter Heimbewohner gehen vor allem Ministerpräsidentin Dreyer nahe. Wochenlang habe sie ihre eigene Mutter nicht sehen können, weil es in deren Heim einen Corona-Fall gegeben habe, erzählte sie. Kürzlich durfte sie wieder zu ihr: "Die eigene Mutter nicht anfassen zu dürfen, ist eine ganz harte Situation. Wir müssen alles dafür tun, dass diese Isolation aufhört."

"Das ist wie Einzelhaft", wusste auch Kubicki am Beispiel seiner Schwiegermutter zu bekräftigen, dass er die thematisierten Zustände für untragbar hält. "Das treibt Menschen fast in den Wahnsinn. Wir sollten anfangen, das Personal zu testen." Peter Dabrock, bis April Vorsitzender des Deutschen Ethikrats, forderte an dieser Stelle, die Gesellschaft müsse "die Schwächsten mitnehmen". Testmöglichkeiten, so der Theologe, dürften keine Frage des Geldbeutels sein: "Wir müssen dafür sorgen, dass Menschen, egal welches Einkommen sie haben, ihre Angehörigen in Altenheimen besuchen können."

Als umso "verheerender" wertet der Ethiker das Signal, das die Wiederaufnahme des Bundesliga-Spielbetriebs aussende. Dass für Fußallspieler anderswo limitierte Testkapazitäten aufgebracht werden, hält er für eine "Vorzugsbehandlung", die das Zeug hat, den gesellschaftlichen Frieden zu gefährden.

Ja, es ist wirklich wahr: Über die Fußball-Bundesliga wurde am Sonntag bei "Anne Will" auch wieder ausführlichst gesprochen.

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