Anne Ratte-Polle im Interview: "Der Mensch ist kein Einzelgänger, sondern Herdentier"

Anne Ratte-Polle, 49, ist eine der begehrtesten Schauspielerinnen Deutschlands, weil sie durch ihre intensiv authentische Präsenz fasziniert. Sie macht Filme besser - was bei Dominik Grafs "Mein Falke" jedoch nicht notwendig war. Das Porträt einer alleinstehenden Frau, die einen jungen Falken aufziehen will, ist auch so grandios. (Bild: Matthias Bothor)

Wenn man sich in diesem Jahr nur noch auf einen ungewöhnlichen Fernsehfilm einlassen will, dann auf "Mein Falke" mit Anne Ratte-Polle von Dominik Graf. Im Interview erzählt die 49-Jährige, was man von einem großen Raubvogel lernen kann und wie viel uns ihre Rolle über das Leben verrät.

Anne Ratte-Polle ist eine der begehrtesten Schauspielerinnen Deutschlands, weil sie durch ihre intensive Präsenz Filme oder Serien besser macht. Die 49-Jährige fasziniert durch eine Mischung aus Natürlichkeit und lebendig komplexer Aura, die gar nicht so leicht zu beschreiben ist, sofern man sie nicht erlebt hat. Ratte-Polle ("Es gilt das gesprochene Wort") macht Filme mitunter besser als sie sind - was bei Dominik Grafs "Mein Falke" (Mittwoch, 13. Dezember, 20.15 Uhr, Das Erste) allerdings nicht notwendig war. Das Porträt einer alleinstehenden Frau, die einen jungen Falken aufziehen will, ist auch so grandios.

teleschau: In "Mein Falke" müssen Sie drei Todesfälle aufklären, aber der Film ist kein Krimi. Geschickt eingefädelt ...

Anne Ratte-Polle: Das stimmt! Eine Frau steht im Mittelpunkt dieses Films, der eigentlich ganz viele Aspekte und Fragen unseres Lebens behandelt: Familie, Beziehung, Eltern - aber auch unser Verhältnis zu Tieren und der Natur. Natürlich geht es auch um den Tod und welche Rolle er in unserem Leben spielt. Wäre ja auch komisch, wenn nicht. Schließlich spiele ich eine Forensikerin, die dem Tod und seinen Ursachen nachforscht.

teleschau: Sie haben das erste Mal mit dem Regisseur Dominik Graf gearbeitet, von dem heißt es, dass es ein bisschen anders mit ihm wäre als mit anderen. Wie fanden Sie's?

Anne Ratte-Polle: Großartig. Erstens hat er eine wahnsinnige Achtung vor Schauspielern. Er gibt einem sehr viel Raum, man arbeitet auf Augenhöhe und er schaut sehr präzise und sehr tief hin. Dadurch ist es leicht, genau zu spielen und das Herz zu öffnen. Man fühlt sich gesehen und geschützt. Außerdem verhandelt Dominik in jeder Szene so viele Dinge gleichzeitig durch seine Inszenierung, dass die Szenen dadurch enorm vielschichtig werden. Es ist nie flach bei ihm, sondern immer schillernd mit tausend Dingen, die gleichzeitig nebeneinander herlaufen. Eigentlich so, wie es im echten Leben auch ist.

Inga (Anne Ratte-Polle) hat die Verantwortung für einen jungen Falken übernommen. Der wunderbare Fernsehfilm "Mein Falke" ist die zweite Zusammenarbeit der fünffach Grimme-Preis-gekrönten Autorin Beate Langmaack mit Ausnahme-Regisseur Dominik Graf.  (Bild:  NDR/Frédéric Batier)
Inga (Anne Ratte-Polle) hat die Verantwortung für einen jungen Falken übernommen. Der wunderbare Fernsehfilm "Mein Falke" ist die zweite Zusammenarbeit der fünffach Grimme-Preis-gekrönten Autorin Beate Langmaack mit Ausnahme-Regisseur Dominik Graf. (Bild: NDR/Frédéric Batier)

"Dann spürt man, wie der Vogel sich mit einem synchronisiert"

teleschau: Ungewöhnlich dürfte auch sein, dass Sie einen Raubvogel als Spielpartner hatten. Wie war es, mit einem Falken zu arbeiten?

Anne Ratte-Polle: Auch ganz toll. So ein Tier ist einfach da, es ist "real" und reagiert immer aus dem Moment heraus und das gar nicht mal so unberechenbar, wie man glaubt. Es macht Spaß, sich mit so einem anderen Wesen zu verbinden und mit ihm in eine gemeinsame Schwingung zu kommen.

teleschau: Haben Sie zuvor schon mal so einen großen Vogel auf dem Arm gehabt?

Anne Ratte-Polle: Nein. Ich fing etwa einen Monat vor Drehbeginn an, mich auf die Situation vorzubereiten. Dafür fuhr ich zum Falkenhof Ravensberge nach Potsdam. Dort hat mich die Besitzerin des Hofes, Ilka Simm-Schönholz, sehr geduldig und freundlich mit Falken vertraut gemacht.

teleschau: Was muss man im Umgang mit Falken beachten?

Anne Ratte Polle: Es gibt dort ein Programm, das heißt "Falkner für einen Tag". Da geht man einfach mit den Vögeln spazieren. Durch den Wald. Das ist herrlich, aber ich sage Ihnen: Auf Dauer wird der Arm da ganz schön schwer (lacht). Aber es ist total faszinierend, dass da so ein großes edles Wesen auf deinem Arm sitzt. Es macht etwas mit dir ...

teleschau: Was denn genau?

Anne Ratte Polle: Na ja, das Tier ist einem ja erst mal fremd. Mit der Zeit merkt man, wie sensibel der Vogel ist. Man muss sich sehr auf ihn konzentrieren. Und dann spürt man, wie der Vogel sich mit einem synchronisiert. Das ist verblüffend. Der Vogel achtet auf dich und passt sich an. Wir haben an diesem Tag viele Fotos gemacht. Und je nachdem, wie und wohin ich gucke: Der Falke schaut genauso.

Falkner Lars (Dennis Pörtner) betraut Inga (Anne Ratte-Polle) mit der Erziehung eines Nachwuchs-Greifvogels.
 (Bild:  NDR/Frédéric Batier)
Falkner Lars (Dennis Pörtner) betraut Inga (Anne Ratte-Polle) mit der Erziehung eines Nachwuchs-Greifvogels. (Bild: NDR/Frédéric Batier)

"So ein Wesen nimmt uns tiefer wahr, als wir denken"

teleschau: Muss man ein Talent mitbringen, um ein guter Falkner zu werden?

Anne Ratte-Polle: Man sollte ruhig sein. Wäre man nervös, würde der Falke auch mit Nervosität reagieren. Dann will der Vogel weg von dir. Insofern ist er auch ein guter Spiegel der eigenen inneren Verfassung. Der Falke hat enorme Antennen. So ein Wesen nimmt uns tiefer wahr, als wir denken.

teleschau: Aber Sie haben keine Falkner-Prüfung angelegt, so wie ihre Filmfigur?

Anne Ratte-Polle: Nein, das dauert dann doch etwas länger. Ich war nur etwa dreimal auf dem Potsdamer Hof.

teleschau: Aber wir sehen einen Falken im Film, der schon vorher gedreht hat - oder?

Anne Ratte-Polle: So genau kann ich das nicht sagen. Einer der Falken auf jeden Fall nicht, der war noch ganz jung, ungefähr einen Monat alt. Der Tiertrainer, Marco Heyse, hatte die Vögel sehr gut auf die Situation vorbereitet. Er wusste, was er für jede Situation tun muss, damit der Vogel ruhig wird oder eben nicht. Aber ein Falkner aus der Gegend stand uns auch beim Dreh mit seiner Hilfe zur Verfügung - für den Notfall. Und sein Falke war ebenso leicht zu händeln. Ich lernte eben gewisse Regeln, die es ja im Umgang mit jedem Tier gibt. Und so ging das dann, natürlich auch mit geballter Sensibilität vom Team.

Einer von drei Todesfällen, die aufgeklärt werden müssen: Dank Ingas (Anne Ratte-Polle, zweite von links) Arbeit können Sander de Moor (Herman van Ulzen, dritter von rechts) und seine niederländische Familie endlich ihren Vater, Großvater und Ahnen bestatten, der als Zwangsarbeiter in Deutschland zu Tode kam. (Bild:  NDR/Frédéric Batier)
Einer von drei Todesfällen, die aufgeklärt werden müssen: Dank Ingas (Anne Ratte-Polle, zweite von links) Arbeit können Sander de Moor (Herman van Ulzen, dritter von rechts) und seine niederländische Familie endlich ihren Vater, Großvater und Ahnen bestatten, der als Zwangsarbeiter in Deutschland zu Tode kam. (Bild: NDR/Frédéric Batier)

"Nach einer Trennung kann es sein, dass wir als Mensch zumachen"

teleschau: Im Film wird der Vogel zum Partner dieser alleinstehenden Frau. Sie erzählt ihm dann - als einzigem Wesen - auch offen ihr Leben. Wofür steht der Falke?

Anne Ratte-Polle: Er ist einfach ein Wesen, mit dem sie in Kontakt tritt. Vorher sieht man, wie sie den näheren Kontakt mit anderen lieber meidet, lieber mit sich alleine ist und ihre Ruhe hat. Sie liebt ihren Beruf, in dem sie den Draufblick auf menschliche Intimitäten bei Kriminalfällen, aber auch auf die Schönheit von molekularen Formen und Zellen hat. Darin hat sie sich ein wenig verkrochen. Natürlich auch ein Stück weit aus Einsamkeit und der Angst vor Öffnung heraus. Nach einer Trennung, kann es sein, dass wir als Mensch "zumachen", weil wir engen Bindungen nicht mehr so leicht vertrauen. Man gewöhnt sich auch daran und denkt: Mir fehlt eigentlich nichts. Alles ganz normal so! Was eventuell nicht ganz stimmt.

teleschau: Warum nicht?

Anne Ratte-Polle: Wir alle brauchen einen Austausch mit anderen auf einer tieferen Ebene. Und für sie passiert das eben, als sie dem Falken begegnet. Dadurch beginnt sie auch ihre eigenen Gefühle mehr wahrzunehmen. Sie öffnet ihr Herz nicht nur gegenüber dem Vogel, sondern auch sich selbst. Der Mensch ist kein Einzelgänger, sondern Herdentier.

teleschau: Ist es für Menschen, die von der Liebe enttäuscht sind, eine gute Idee, sich ein Haustier zuzulegen?

Anne Ratte-Polle: Vielleicht ja, weil Tiere sehr viel Zuneigung schenken. Aber Tiere sind ja sehr unterschiedlich, vor allem anders als wir Menschen. Man sollte sie schon ihrer Art entsprechend halten. Der Falke ist natürlich kein klassisches Haustier. Er wird in einigen Kulturen als Helfer bei der Jagd verwendet. Er ist also kein Vogel für die Stange daheim. Aber auch Pflanzen sind Wesen, bei denen man merkt, ob es ihnen gut geht, oder nicht. Da ist die Forschung ja auch schon so weit, dass Pflanzen miteinander kommunizieren und vielleicht ja auch mit uns. Ich denke, es tut generell gut, in Verbindung zu gehen, mit Mitmenschen und anderen Lebewesen. Wir sind alle miteinander verbunden, es gibt keine Trennung. Wir sind alle voneinander abhängig und können uns gegenseitig bereichern.

Inga (Anne Ratte-Polle) hat ihr Zuhause im Sinne ihres "Haustieres" umgebaut. Das Training mit dem Falken bestimmt von nun an ihr Privatleben. (Bild:  NDR/Frédéric Batier)
Inga (Anne Ratte-Polle) hat ihr Zuhause im Sinne ihres "Haustieres" umgebaut. Das Training mit dem Falken bestimmt von nun an ihr Privatleben. (Bild: NDR/Frédéric Batier)

"Dass der Apparat sie dann auch machen lässt ..."

teleschau: Es fällt auf, dass Sie immer wieder Hauptrollen in sehr interessanten Frauengeschichten spielen. Wie schwer ist es, diese abseits des deutschen Krimis zu finden?

Anne Ratte-Polle: Danke, es darf sehr gerne mehr solche Stoffe geben, ob im Krimi oder in anderen Genres. Ich habe viel Theater gespielt. Mir ging es stets darum, dass ich bei der Arbeit etwas Neues erfahre, dass ich mich mit Neuem beschäftigen kann. Aber vor allem versuche ich mit jeder Rolle ein Stück weit auch das gängige Frauenbild im Film zu erneuern und zu erweitern. Dadurch ist es der Realität oft näher, als man denkt, aber manchmal auch glamouröser, als es in der Realität sein darf. Manchmal schreibe ich auch Stoffe zusammen mit der Regie oder den Autorinnen und Autoren. Ich erweitere durch solchen Rollen auch mein eigenes Erleben als Frau und ich hoffe, auch das der Zuschauenden. Ich brauche gute Stoffe für die Art, wie ich gerne arbeite. Deshalb mache ich eben auch Low Budget-Projekte. Aber ich freue mich, dass es in der letzten Zeit sehr viel mehr gute Stoffe für Frauen, auch im normal budgetierten Film gibt.

teleschau: Sie haben in den letzten Jahre in zwei sehr ungewöhnlichen "Tatorten" gespielt: dem Udo Lindenberg-Krimi von Detlev Buck mit Maria Furtwängler, der im Hamburger Hotel Atlantic spielt, und in Ulrich Tukurs "Die Ferien des Monsieur Murot" - als Femme fatale ...

Anne Ratte-Polle: Ja (lacht), über beides habe ich mich sehr gefreut. Ich bin ein großer Fan dieser Tukur-"Tatorte", weil sie die Absurdität und Extravaganz feiern. Ehrlich gesagt, hatte ich schon seit Jahren gehofft, da mal mitspielen zu dürfen und war entsprechend "happy" über die Anfrage. Auch mit Detlev Buck ist es sehr toll zu arbeiten, weil man mit ihm zusammen viel entwickeln kann. Er ist künstlerisch ein sehr offener Mensch - hat selber viele Ideen, hat aber auch viele Ideen angenommen und mir Mut gemacht, in der Idee weiter zu gehen und sich nicht vom Apparat einschüchtern zu lassen. Er ist für alles offen, bis kurz vorm Dreh und gibt einem einen Boden zum Spielen, der einen auffängt oder pusht. Und das macht dann auch noch alles Sinn oder eben Unsinn. Das war herrlich.

teleschau: Fehlt so ein bisschen der Mut fürs Verrückte im deutschen Fernsehen?

Anne Ratte-Polle: Tja, Mut gibt es bei einigen Kreativen, aber es ist halt immer auch die Frage, ob die so etabliert sind, dass man sie auch engagiert und sie es mit ihrem Ansatz und ihrer Vision auch ins Fernsehen schaffen. Oder, wenn sie schon etabliert sind, dass der Apparat sie dann auch machen lässt.

Inga (Anne Ratte-Polle) und ihr Vater Harald (Jörg Gudzuhn) haben ein kompliziertes Verhältnis miteinander. (Bild:  NDR/Frédéric Batier)
Inga (Anne Ratte-Polle) und ihr Vater Harald (Jörg Gudzuhn) haben ein kompliziertes Verhältnis miteinander. (Bild: NDR/Frédéric Batier)

"Ich war der Meinung, dass ich noch gar nichts zu erzählen hatte"

teleschau: Hat man Sie schon mal gefragt, ob Sie "Tatort"-Kommissarin oder etwas Vergleichbares werden wollen?

Anne Ratte-Polle: Ja, ich hatte tatsächlich schon mal Anfragen. Aber da war ich noch sehr jung, 33 oder so. Damals dachte ich, dass ich noch nicht gefestigt genug bin, um in dem Format Fernsehreihe bestehen zu können. Um bei mir zu bleiben und gegebenenfalls auch dem Apparat standzuhalten zu können. Ich war der Meinung, dass ich noch gar nichts zu erzählen hatte, dass ich mein Spiel erst erweitern muss, im Film und im Theater. Ich wollte weiter an der Berliner Volksbühne arbeiten, mit Frank Castorf, René Pollesch, Dimiter Gotscheff und Herbert Fritsch. Das war dann auch eine sehr wichtige und prägende Zeit für mich.

teleschau: Wäre man als "Tatort"-Kommissarin stark eingeschränkt?

Anne Ratte-Polle: Damals dachte ich das - und es ist natürlich was dran, weil jeder kennt dich dann in dieser Rolle. Ich darf dagegen immer wieder jemand Neues sein, und kaum jemand erinnert sich (lacht).

teleschau: Aber heute würden Sie so ein Rollenangebot annehmen?

Anne Ratte-Polle: Ja, wenn das Konzept stimmen würde - dann schon.

teleschau: Sie könnten auch ihre Gerichtsmedizinerin fortsetzen, inszeniert von Dominik Graf.

Anne Ratte-Polle: Den Vertrag für eine entsprechende Film-Fortsetzung oder auch eine Serie würde ich sofort unterschreiben (lacht). Mit Dominik Graf auf jeden Fall, für jeden Fall und auch sogar im freien Fall.

Inga (Anne Ratte-Polle) ist begeistert: Das Training mit ihrem jungen Falken Giovanni trägt Früchte! (Bild:  NDR/Frédéric Batier)
Inga (Anne Ratte-Polle) ist begeistert: Das Training mit ihrem jungen Falken Giovanni trägt Früchte! (Bild: NDR/Frédéric Batier)