"Anne Will" über Lockdown-Ende: "Ich wundere mich, dass wir uns diese Fragen schon stellen"

40 Milliarden Euro kosten die Lockdown-Maßnahmen der Bundesregierung Deutschland in der Woche. Bei "Anne Will" war das Anlass, nach Exit-Strategien aus dem Lockdown zu fragen. Ein Epidemiologe warnte vor Eile - und widersprach auch der Kanzlerin.

Ein bisschen darf man sich schon wundern über die deutsche Debattendynamik in der Corona-Krise. Ihre volle Wucht hat die Pandemie noch gar nicht entfaltet zwischen Flensburg und Garmisch, da diskutieren schon auffällig viele Menschen im Land darüber, wann die Shutdown-Bestimmungen denn endlich gelockert werden können. Das Machtwort der Bundeskanzlerin Angela Merkel, es sei zu früh für solche Erörterungen, verhallte auch im Studio bei "Anne Will". Die ARD-Talkerin sprach am Sonntagabend nach dem "Tatort" zum Thema "Der Corona-Ausnahmezustand - wie geht es weiter in Deutschland?".

40 Milliarden Euro - dieser Betrag gehe pro Woche verloren, in der das öffentliche Leben und damit die Wirtschaft in Deutschland lahmgelegt sind, rechnete Clemens Fuest vor. "Das ist so viel wie der Verteidigungshaushalt dieses Landes." Der Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung mahnte an: "Wir müssen auf Dauer Strategien haben, die es uns erlauben, die Rettung der Wirtschaft und die Rettung der Gesundheit zu vereinbaren. Wir müssen es schaffen, arbeiten zu gehen und uns vor Ansteckung zu schützen." Sobald die "Fachleute" und die Politik grünes Licht für die Wiederaufnahme des öffentlichen Lebens gäben, müsse man "ein Konzept in der Hand haben".

"Wir dürfen uns nicht auf feste Zeitpläne festlegen"

Gegen die Notwendigkeit eines solches Konzept mochte in der Runde niemand sprechen, auch nicht Wirtschaftsminister Peter Altmaier und Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher. Doch wie genau es aussehen könnte - das ließ der "Anne Will"-Talk im Nebulösen. "Wir dürfen uns jetzt auch nicht auf feste Zeitpläne festlegen. Wir müssen auf Sicht fahren und jeden Moment neu bewerten aufgrund neu hereinkommender Daten", bekräftigte der in die Sendung zugeschaltete Epidemiologe Gérard Krause. Der Forscher, der am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig einen Corona-Antikörpertest entwickelt, erhoffe sich schon bald belastbare Daten, die in der Frage weiterhelfen. Etwa zur Bestimmung von Risikogruppen, Sterblichkeit und des Anteils der Bevölkerung, der die Krankheit schon durchgemacht hat.

Dem Diktum der Kanzlerin, die Verdopplungsrate der Fallzahlen müsse erheblich verlangsamt werden, bevor eine "Exit-Strategie" ins Auge gefasst werden könne, widersprach Krause. "Es geht nicht darum, die Verdopplung der Fallzahlen zu rechnen. Es geht darum, die Verdopplung der schwer Erkrankten zu rechnen." Viele leicht erkrankte Corona-Patienten seien nicht das Problem. Darum müsse man schauen, wie stark das Gesundheitssystem be- oder sogar überlastet ist. Krause, der in Asien verbreiteten Tracking-Apps zur Nachverfolgung von Infiziertenkontakten eine hinreichende Wirksamkeit absprach, warnte, dass in naher Zukunft genau das passieren könnte: "Die Epidemie ist noch gar nicht so richtig bei der älteren Bevölkerung angekommen. Wir müssen uns darauf einstellen, dass es noch schlimmer wird."

"Eigentlich ist diese Diskussion aus meiner Sicht zu früh"

Auf die Lockerungsbremse trat auch die zweite Medizinerin der Runde. "Ich wundere mich, dass wir uns diese Fragen schon stellen. Eigentlich ist diese Diskussion aus meiner Sicht zu früh", wand die Internistin Susanne Johna ein, 1. Vorsitzende des Marburger Bundes. Nachdenken sei immer sinnvoll, (medizinische) Wirkung und (ökonomische) Nebenwirkung müssten abgewogen werden. Doch könne man die Auswirkungen der sozialen Kontaktbeschränkungen in Deutschland aufgrund der langen Inkubationszeit des Virus eben frühestens am Ende der Woche erkennen.

Der Krankenhaus-Oberärztin brennen ohnehin ganz andere Fragen auf den Nägeln - sie klingen inzwischen leider allzu vertraut: "Können wir das Personal, das wir brauchen, um die Patienten zu versorgen, auch weiter gesund halten? Das können wir nur, wenn wir für dieses Personal ausreichend Schutzausrüstung zur Verfügung haben." Anne Wills Frage, ob man diese Ausrüstung vorrätig habe, mutete rhetorisch an. "Das haben wir nicht", bekräftigte Johna. "Das ist ein echter Knackpunkt. Ich möchte appellieren, bitte das jetzt in den Hauptfokus zu nehmen, denn uns helfen zusätzliche Beatmungsgeräte nicht mehr, wenn wir das Personal nicht gesund haben, diese auch zu bedienen." Dass angesichts der weltweiten Nachfrage nach denselben Produkten nicht stärker in Deutschland produziert werde, kann die Ärztin nicht verstehen,

Wirtschaftsminister Peter Altmeier konnte darauf nur das tun, was Politiker dieser Tage oft tun müssen: auf später vertrösten. Es dauere eben, "bis alle Unternehmen, die bereit sind, etwa von Textilproduktion auf Maskenproduktion umzustellen, dann ihre Produktion hochgefahren haben", so der CDU-Politiker. Man wird sehen, ob das nicht zu spät ist.