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Anti-AfD-Vorstoß wird zum Bumerang

In Deutschland steigt die Wahlbeteiligung wieder. Vor allem der AfD gelingt es, Dauer-Nichtwähler zu mobilisieren. Das löst unter Politikern aller Couleur Besorgnis aus. Für Aufsehen sorgt ein Vorschlag aus der CDU.

 

Jahrelang zeigten die Pfeile bei der Beteiligung an Wahlen in Deutschland zumeist nach unten. Doch seit einiger Zeit treibt es die Deutschen wieder verstärkt zu den Stimm-Urnen. Der Anstieg der Wahlbeteiligung entwickelte sich parallel zum Aufstieg der AfD. So erhielt die Partei etwa bei der Abgeordnetenhauswahl im vergangenen Jahr in Berlin einer Analyse des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap zufolge 69.000 Stimmen von vorherigen Nichtwählern. Die anderen fünf Parteien, die es ins Landesparlament schafften, brachten es nur auf 40.000 frühere Nichtwähler.

„Die AfD mobilisiert auch Dauer-Nichtwähler“, sagte der Chef des Instituts Forsa, Manfred Güllner. Das seien Menschen, die schon lange nicht mehr zur Wahl gegangen seien und die Demokratie deutlich stärker in Frage stellten als die deutlich größere Gruppe der sporadischen Nichtwähler, die sich selbst eher als „Wähler im Wartestand“ bezeichneten. Denselben Effekt wie in Berlin hatten Experten auch bei den Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ausgemacht, wo die AfD ebenfalls aus dem Stand in die Länderparlamente einzog. Doch nicht immer geht diese Rechnung auf, wie die NRW-Wahl gezeigt hat. Dort konnten von einer erhöhten Wahlbeteiligung in der bürgerlichen Mitte vor allem CDU und FDP profitieren, heißt es in einer Analyse der Bertelsmann-Stiftung.

Kurz vor der Bundestagswahl zeichnen Umfragen allerdings ein anderes Bild. Union und SPD büßen an Zustimmung ein, während die AfD zulegt. Die Erhebung des Allensbacher Institutes für Demoskopie für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ ergab für beide Volksparteien einen Rückgang um jeweils zwei Punkte. Die Union liegt demnach bei 36,5 Prozent und die SPD bei 22 Prozent. Drittstärkste Kraft würde die FDP mit elf Prozent, die sich gegenüber der vorigen Umfrage von Ende August um einen Punkt verbessern konnte.

Die AfD legte demnach um zwei Punkte auf zehn Prozent zu. Sie habe der Linken als Sammelbecken der Unzufriedenen den Rang abgelaufen, erklärten die Demoskopen. Aber auch die Linkspartei legt um einen Punkt auf neun Prozent zu, während sich die Grünen von 7,5 Prozent auf acht Prozent verbessern.

Vor dem Hintergrund der ungünstigen Umfragelage sorgt nun ein Vorstoß aus der CDU für Aufsehen. Kanzleramtschef Peter Altmaier rief die Bundesbürger dazu auf, lieber erst gar nicht wählen zu gehen, als die AfD zu wählen. Wie kam es dazu? Der Vertraute von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wurde in einem Video-Interview der „Bild“-Zeitung mit dem von der Interviewerin vorgelegten Satz konfrontiert: „Es ist besser AfD zu wählen als nicht zu wählen.“ Woraufhin Altmaier sofort mit „Nein“ antwortete. Daraufhin wurde er nochmals gefragt: „Ein Nicht-Wähler ist besser als ein AfD-Wähler?“ Und Altmaier antwortet: „Aber selbstverständlich. Die AfD spaltet unser Land. Sie nutzt die Sorgen und die Ängste der Menschen aus. Und deshalb glaube ich, dass eine Stimme für die AfD – jedenfalls für mich – nicht zu rechtfertigen ist.“

Er plädiere zwar nicht für das Nicht-Wählen, fügte Altmaier noch hinzu. Aber: „Es ist so, dass der Nicht-Wähler auch eine Meinung zum Ausdruck bringt.“ Er könne "keinen Sinn darin erkennen, für die AfD zu stimmen. Im Übrigen glaube ich auch, dass die Linke keine Partei ist, die die Stabilität unseres politischen Systems befördert“, so der CDU-Politiker.

Dass Altmaier mit seinen Vorstoß bei der AfD großen Unmut auslöst, kommt nicht überraschend. „Das sind schöne Demokraten! Jetzt ruft ein Mitglied der Bundesregierung zum Wahlboykott auf“, entrüstete sich Spitzenkandidat Alexander Gauland. AfD-Bundesvorstandsmitglied André Poggenburg empörte sich: „Wie kann ein Regierungsmitglied so einen Spruch loslassen – das ist ein absoluter Tiefpunkt.“

Scharfe Kritik erntete der Kanzleramtschef auch bei anderen Parteien. Selbst sein christdemokratischer Kabinettskollege und Innenminister Thomas de Maizière ging auf Distanz. Er hoffe zwar, dass die AfD nicht viel gewählt werde. „Hingehen muss man auf jeden Fall“, sagte der Minister der „Bild“-Zeitung. Zur Not könne man auch „ungültig abstimmen“. Denn es gebe „in Wahrheit keine Ausrede, nicht zur Wahl zu gehen“.

„Dass Altmaier jetzt Menschen auffordert, nicht wählen zu gehen, ist ungeheuerlich und undemokratisch“, empörte sich der Sprecher des Seeheimer Kreises in der SPD, Johannes Kahrs, im Gespräch mit dem Handelsblatt. „Ziel muss es sein, die Menschen davon zu überzeugen, die rechtsradikale AfD nicht zu wählen, das ist sein Job.“

Altmaiers Nichtwahl-Aufruf sei wohl „die logische Weiterentwicklung der Merkel‘schen Wahlkampfstrategie der asymmetrischen Demobilisierung: Keine Inhalte, nichts Kontroverses, langweilige Debatten“, sagte Kahrs weiter. Danach könne man die CDU mit Erst und Zweitstimme wählen oder gehe nach Auffassung von Altmaier am besten gar nicht wählen. „Das ist erbärmlich.“

Justizminister Heiko Maas (SPD) erinnerte daran, dass die Demokratie davon lebe, dass sich möglichst viele Menschen an Wahlen beteiligen. Mit Blick auf die AfD, die er für nationalistisch und fremdenfeindlich und ihr Programm für verfassungswidrig hält, fügte Maas in den Zeitungen der „Funke-Mediengruppe“ hinzu: „Wer das verhindern will, der darf gerade nicht der Wahl fernbleiben.“

Auch die SPD-Spitze lehnt Wahlempfehlungen à la Altmaier ab. „Ein Kanzleramtsminister sollte nicht zur Nichtwahl aufrufen, sondern für eine starke und lebendige Demokratie kämpfen“, schrieb SPD-Generalsekretär Hubertus Heil auf Twitter.


„Wählen gehen oder Gedichte auf den Wahlzettel schreiben“

Die FDP führt den Vorstoß Altmaiers darauf zurück, dass sich in der CDU gegen Ende des Wahlkampfes Unruhe wegen der sinkenden Umfragewerte breitzumachen scheine. „Anders ist nicht zu erklären, dass der Kanzleramtsminister und CDU-Wahlkampfmanager Altmaier zur Nichtwahl politischer Mitbewerber – auch wenn er AfD heißt – aufruft“, sagte Parteivize Wolfgang Kubicki dem Handelsblatt. „Es wäre deutlich eher im demokratischen Sinne, wenn Altmaier wenigstens versuchen würde, die Wähler von den politischen Inhalten der CDU zu überzeugen, statt sie zur Nichtwahl aufzurufen.“

Die Grünen halten ebenfalls nichts von Altmaiers Nichtwahl-Aufruf. „Wen die größeren Parteien nicht überzeugen, kann zur Not auch immer noch Piraten oder kuriose Einthemenparteien wie die Partei für Gesundheitsforschung wählen. Oder Gedichte auf den Wahlzettel schreiben“, sagte der Grünen-Bundestagsabgeordnete Volker Beck dem Handelsblatt. „Aber hingehen ist schon die Verantwortung jedes Demokraten.“

 

Gleichwohl ist Beck der Ansicht, dass die AfD mit ihrem „rassistischen, antisemitischen und homophoben Gedankengut“ für eine „menschenverachtende Ideologie“ stehe, die im Bundestag nichts zu suchen habe. „Sie ist denkbar ungeeignet, um die Unzufriedenheit, die manche gegenüber den jetzt im Bundestag vertretenen Parteien hegen, zum Ausdruck zu bringen“, betonte er. „Das heißt aber nicht, dass die Unzufriedenen lieber nicht zur Wahl gehen müssen.“

Aber nicht allein das Aufkommen der AfD sorgt für einen Anstieg der Wahlbeteiligung. „Die Zeiten sind politischer geworden, zudem sind die Alternativen deutlicher“, meinte vor einiger Zeit Thorsten Faas, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Mainz. Es sei mehr Bürgern wieder klarer, „dass es nicht egal ist, wie eine Wahl ausgeht“. Das erhöhe „Bedeutung von Wahlen in den Augen der Menschen – und die Wahlbeteiligung steigt“, sagte Faas.

Gezeigt hat das Ende März die Landtagswahl an der Saar. Dort profitierte die CDU so stark wie keine andere Partei von vorherigen Nichtwählern. Die Union erhielt laut Infratest dimap 28.000 Stimmen aus dieser Gruppe, die SPD nur 13.000. Eine drohende rot-rote Koalition habe der CDU bei der Mobilisierung geholfen, erklärt Meinungsforscher Güllner. Und Politikprofessor Faas sagt: „Parteien brauchen einen Hebel, um zu mobilisieren – im Saarland war das die beliebte Ministerpräsidentin.“

Bei der Bundestagswahl dürfte der AfD vor allem ein Thema Wähler zu treiben: die Flüchtlingspolitik. Zumal dies auch schon bei vorherigen Wahlen funktioniert hat. „Nachdem es um die Euro-Rettungspolitik ruhiger geworden war, hat natürlich die Flüchtlingszuwanderung den stärksten Einfluss auf die Wahl der AfD gehabt. Aber damit sind auch andere Themen wie Kriminalitätsbekämpfung, Terrorismus, Überfremdungsängste verbunden, die AfD-Wähler am stärksten berühren“, sagte der Bremer Politikwissenschaftler Lothar Probst dem Handelsblatt.


„Das Volk ist der Souverän und nicht Herr Altmaier“

Nach Einschätzung des Rechtspopulismus-Forschers Matthias Quent vom Jenaer Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft dominiert bei der AfD die pauschale Ablehnung des Islams, die häufig mit der Gefahr durch den islamistischen Terrorismus und der Zuwanderung gleichgesetzt werde. „In allgemeinen national-moralisierenden Narrativen lassen sich viele Themen miteinander verbinden“, sagte Quent dem Handelsblatt.

Auch wenn viele Wähler sich für die AfD entscheiden, trauen sie der Partei nicht unbedingt eine größere Lösungskompetenz zu als den anderen Parteien. „Ein erheblicher Teil der AfD-Wähler will den anderen Parteien eher einen Denkzettel verpassen und ihnen signalisieren, dass sie sich stärker um ihre Sorgen kümmern sollen“, sagte Probst. „Aber Lösungskompetenzen für die anstehenden Probleme erwarten sie nicht gerade von der AfD, wie viele Umfragen zeigen.“ Neben ideologischen Überzeugungswählern setze sich die Wählerschaft eben auch aus Protestwählern zusammen.

So gesehen dürfte der Altmaier-Vorstoß ohnehin nicht viel bringen. Der Berliner Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer hält ihn sogar für grundfalsch. „In unserer Demokratie ist das Volk der Souverän und nicht Herr Altmaier“, sagte Niedermayer dem Handelsblatt. „Die Demokratie lebt von der Beteiligung der Bürger.“ Zur Nichtwahl aufzurufen sei daher „sehr seltsam“. Im Übrigen glaube er, so Niedermayer weiter, „dass Herr Altmaier der AfD damit in die Hände spielt“. Es sei ihm zwar unbenommen, sich als CDU-Mitglied gegen konkurrierende Parteien zu positionieren. Aber: „Als Staatsminister sollte sich Herr Altmaier generell mit Wahlempfehlungen zurückhalten.“

Mit dem Grundgesetz kollidiert Altmaier indes offenbar nicht. „Nach dem Grundgesetz und der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dürfen Mitglieder der Bundesregierung sich als Parteipolitiker auch im Wahlkampf äußern, wenn sie keine Ressourcen aus ihrem Amt in Anspruch nehmen, die zu einem Verstoß gegen die Chancengleichheit der Parteien führen würden“, sagte der Rektor der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, Joachim Wieland, dem Handelsblatt.

Am Ende dürfte sich die AfD womöglich selbst Wähler abspenstig machen. Jedenfalls sieht die AfD-Vorsitzende Frauke Petry die Wähler durch den Richtungsstreit in ihrer Partei bereits verunsichert. Mit Blick auf heftig kritisierte Aussagen wie die von Spitzenkandidat Alexander Gauland über Stolz auf die Wehrmacht sagte sie der „Leipziger Volkszeitung“: „Ich verstehe, wenn die Wähler entsetzt sind.“ Die parteiinternen Konflikte würden nicht spurlos an der AfD und den Menschen vorübergehen: „Wenn nicht klar ist, wohin die Partei steuert, verunsichert das die Wähler.“

Die AfD-Stammklientel lasse sich zwar nicht beirren, weil sie sich in den letzten Jahren an solche Auseinandersetzungen gewöhnt habe, erklärte Petry. „Es ist aber auch zu erleben, dass sich gerade viele bürgerliche Wähler abwenden. Das liegt auch an den Schlagzeilen, wie sie in jüngster Zeit produziert werden, und bei denen man sich jedes Mal fragt, ob sie tatsächlich wahr und damit ein Skandal sind.“

Im Video: Was Wähler zur AfD treibt