Antisemitismusbeauftragter Klein prangert "Tsunami an Antisemitismus" seit 7. Oktober an

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, hat sich alarmiert gezeigt angesichts des "offenen und aggressiven" Antisemitismus in Deutschland. "Wir haben seit dem 7. Oktober einen Tsunami an Antisemitismus erlebt", sagte Klein. (John MACDOUGALL)
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, hat sich alarmiert gezeigt angesichts des "offenen und aggressiven" Antisemitismus in Deutschland. "Wir haben seit dem 7. Oktober einen Tsunami an Antisemitismus erlebt", sagte Klein. (John MACDOUGALL)

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, hat sich alarmiert gezeigt angesichts des "offenen und aggressiven" Antisemitismus in Deutschland. "Wir haben seit dem 7. Oktober einen Tsunami an Antisemitismus erlebt", sagte Klein im Interview mit der Nachrichtenagentur AFP. Der Hamas-Angriff auf Israel im Oktober vor fast einem Jahr habe "die bestehenden Dämme in Bezug auf Antisemitismus in unserer Gesellschaft weiter brechen lassen", fügte er hinzu. Dies spiegele sich in der polizeilichen Kriminalstatistik von 2023 mit rund 5000 antisemitischen Straftaten, von denen "die Hälfte nach dem 7. Oktober begangen wurde".

Der "offene und aggressiv auftretende Antisemitismus in all seinen Ausprägungen" sei in Deutschland und weltweit "so stark wie noch nie seit 1945". Dieses "Allzeithoch" zeugt Klein zufolge von einer "besorgniserregenden Absurdität": Denn am 7. Oktober seien "so viele Jüdinnen und Juden ermordet worden wie seit der Schoa nicht mehr". Dennoch zeige die deutsche Öffentlichkeit Solidarität mit Juden "nicht in dem Maße, wie ich mir das gewünscht hätte".

Dabei sei der Antisemitismus "in die Höhe geschnellt", bevor es überhaupt eine Reaktion der israelischen Regierung und Armee auf den Hamas-Angriff gegeben habe, sagte Klein weiter. Dies zeige, "dass letztlich der Antisemitismus mit dem Verhalten von Jüdinnen und Juden und auch letztlich mit dem Verhalten von Israel nichts zu tun hat".

Zwar habe es seit Oktober keine nennenswerte Auswanderung von Juden aus Deutschland gegeben. Auch sei laut jüngsten Umfragen das Vertrauen in die deutschen Sicherheitsbehörden groß. Dennoch sei aber jüdisches Leben derzeit "so stark unter Druck wie seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr". Die Sicherheit jüdischen Lebens sei aber "die Grundvoraussetzung für seine Sichtbarkeit", betonte Klein.

Der Antisemitismusbeauftragte appellierte an die deutsche Zivilgesellschaft, "auf keinen Fall zuzulassen, dass Jüdinnen und Juden dafür verantwortlich gemacht werden, was im Nahen Osten passiert". Denn wie jede Form von Diskriminierung sei Antisemitismus "Gift für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt".

Der "absolute Tabubruch" infolge des 7. Oktober betrifft dem Antisemitismusbeauftragten zufolge "alle Bereiche". Antisemitismus sei nun "in Teilen der Gesellschaft vollends akzeptiert". Doch die "Dimension, die Ausprägung und die Hartnäckigkeit des antisemitischen Narrativs" seien "wirklich dramatisch". Menschen mit einer ohnehin antisemitischen Einstellung würden nun "aufgrund der politischen Entwicklung" ihre Ansichten offener äußern, "weil dies auf hierfür besseren Boden trifft".

Neben dem "klassischen deutschen Antisemitismus rechter Prägung" verortet Klein Antisemitismus dabei auch zunehmend in linken und islamistischen Milieus. Aber auch in der Mitte der Gesellschaft würden sich anti-israelische Haltungen ausbreiten. Dabei gerate zunehmend aus dem Blick, "dass es hier um einen Konflikt geht zwischen einer Terrororganisation, die sich nicht um das Völkerrecht schert, und einem demokratischen Staat, der sehr wohl am Völkerrecht gemessen werden will".

Für besonders besorgniserregend hält Klein hierbei "Allianzen zwischen verschiedenen Strömungen". Es gebe Bewegungen, die sonst nicht viel gemeinsam hätten, sich aber einig seien "im Hass auf Juden und auf Israel". Dies betreffe "leider auch den Reflex, Jüdinnen und Juden in Haftung dafür zu nehmen, was im Gazastreifen und in Israel passiert".

"Zum Beispiel bei den Klimaaktivisten oder auch bei queeren Personen sehe ich eine Verharmlosung des Islamismus, der wirklich sehr, sehr kritikwürdig ist", sagte Klein. Dem müsse die Politik mit Aufklärung begegnen - und auch mit Repressionen, "wenn es strafrechtlich relevant wird".

Dennoch sieht Klein Deutschland im internationalen Vergleich im Kampf gegen Antisemitismus "gut aufgestellt". Viele der von ihm angeregten Strukturen würden nun "Früchte tragen". Dazu gehörten die Schaffung und bessere Einordnung von Straftatbeständen, die bundesweite Einführung von Antisemitismusbeauftragten bei allen Generalstaatsanwaltschaften und das Verbot der islamistischen Organisation Samidoun. Polizei, Verwaltung und Justiz seien nun dank Vernetzung und Beratung "besser sensibilisiert".

Allerdings müsse die Verfolgung antisemitischer Straftaten "noch transparenter" werden. Die Bund-Länder-Kommission werde daher im Oktober die Justizministerkonferenz auffordern, sich für die Offenlegung der Zahlen zu tatsächlichen Ermittlungen, Anklagen und Verurteilungen einzusetzen.

Erhöhten Bedarf beim Kampf gegen Antisemitismus sieht Klein insbesondere im Bildungsbereich und bei der Prävention. Hier seien "viele Defizite" zu beklagen. Gerade hier dürfe aber "nicht gespart werden", warnte er mit Blick auf mögliche Kürzungen im Bundeshaushalt 2025.

Auch an deutschen Hochschulen müsse es angesichts einer "massiven Verschlechterung des Diskurses" eine "kluge Kombination" aus Bildungsangeboten geben. "Gerade da, wo Rede und Gegenrede eigentlich miteinander ringen sollten und wo die Debattenkultur exemplarisch geführt werden sollte, hören wir zunehmend von Aggressionen, von Vorgängen, wo Professoren und Studierende niedergebrüllt werden", sagte Klein. Diese "Verrohung" sei "völlig inakzeptabel". Letztlich könne der Kampf gegen Antisemitismus nur gewonnen werden, "wenn die Zivilgesellschaft mitmacht".

kas/cp