Nach Assad-Sturz in Syrien - Experte: Naiv zu glauben, dass nun alle Syrer sofort zurück in ihre Heimat wollen
Der Sturz des Assad-Regimes hat vielen Syrern auf der ganzen Welt Hoffnung gegeben. Auch die deutsche Politik zeigt sich erleichtert. Zu Recht? Und was geschieht nun mit den hunderttausenden syrischen Flüchtlingen in Deutschland? Ein Interview mit Hüseyin I. Çiçek, Privatdozent an der Universität Wien mit den Forschungsschwerpunkten Islamismus und Religionspolitik.
FOCUS: Herr Çiçek, nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs haben die Rebellen am Wochenende das Assad-Regime in Syrien gestürzt. Viele Syrer und auch die deutsche Politik haben mit Erleichterung reagiert. Zu Recht?
Hüseyin I. Çiçek: Zunächst müssen wir zwei Positionen voneinander unterscheiden. Erstens waren die Bürgerkriegsjahre für die Menschen in Syrien eine große Belastung. Mit dem Ende des Bürgerkrieges hoffen nun viele in Europa auf eine politische Veränderung in Richtung liberaler Demokratie und Verfassungsstaatlichkeit. Ob es tatsächlich dazu kommt, wird sich aber noch zeigen, da sich hier verschiedenste islamistische Organisationen zusammengeschlossen (insgesamt 4) haben, um in erster Linie nur Assad zu stürzen. Zum anderen haben europäische Regierungen den Wunsch, nicht mit Diktatoren im Nahen Osten zusammenzuarbeiten. Dem kommt die Entwicklung in Syrien zugute. Im Moment herrscht „geregeltes“ Chaos. Denn zum einen setzt die HTS syrische Politiker derzeit unter Druck, zum anderen betont sie, einen geordneten Übergang zu bewirken. Gerade letzteres wird im Westen gerne gehört. Aber wie sich das Ganze noch entwickeln wird, kann man jetzt nicht sagen. Zu voreiliger Freude würde ich jedenfalls nicht raten.
Bei den neuen Machthabern handelt es sich um Islamisten. Wie begründet ist die Hoffnung, dass gerade diese Leute eine Demokratie aufbauen?
Wir sehen hier Islamisten, die sich als moderate Staatsmänner in Szene setzen wollen. Der jetzige Chef der HTS, Abu Mohammed al-Dscholani, hatte seine Ausbildung bei Al-Qaida begonnen. Im Laufe seiner politischen Karriere hat er sich in Syrien etablieren können und dort die Führung übernommen. Die USA haben ein Kopfgeld in Höhe von mehreren Millionen Dollar auf ihn ausgestellt. Das zeigt: Wir haben es bei den neuen Machthabern in erster Linie nicht mit Leuten zu tun, die den liberal demokratischen Verfassungsstaat fördern möchten. Vielmehr möchte diese Gruppe vor allem ihre Macht ausbauen gegenüber den anderen geopolitischen Spielern.
Dass Assad zu Fall gebracht werden konnte, verdanken die Rebellen nicht dem Westen, wohl aber der Türkei. Welche Stellung wird das dem Land und Präsident Erdogan nun bringen?
Die Türkei und Erdogan haben nie ein Blatt vor den Mund genommen, dass sie das Assad-System fallen sehen wollen. Für die Türkei stellt sich nun die Frage, ob die neuen syrischen Machthaber die syrischen Flüchtlinge aus der Türkei wieder zurücknehmen. Aus der Migrationsforschung wissen wir zumindest, dass ein Rückkehrmechanismus eintritt, wenn die Herkunftsregion wieder sicher ist. Sie haben natürlich Recht, die Türkei hat in Syrien Rebellen unterstützt und es wird sich in den kommenden Tagen und Wochen zeigen, wie gut die Beziehungen zwischen den Rebellen und Ankara wirklich sind.
Großteil der Syrer hat sich in Deutschland Existenz aufgebaut
In Deutschland ist die Debatte um die hier lebenden Syrer mittlerweile entbrannt, die ersten Parteien fordern eine Rückführung von syrischen Flüchtlingen. Allerdings haben von den rund 900.000 Syrern in Deutschland viele mittlerweile sogar die deutsche Staatsbürgerschaft. Wie viele werden tatsächlich in die Heimat zurückkehren?
Ich rate davon ab, naiv zu sein und zu glauben, dass nun alle Menschen aus Syrien sofort zurück in ihre Heimat wollen. Der Großteil der Syrer, die in Deutschland leben, haben sich hier eine Existenz aufgebaut. Viele von ihnen haben mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft. Die werden nicht alles stehen und liegen lassen und wieder zurückgehen. Die meisten Syrer sind vor dem Assad-Regime geflohen. Aber es ist alles andere als eindeutig, wie die jetzigen Machthaber, diese verschiedenen dschihadistischen Gruppen, ihre Macht ausbauen werden. Möglicherweise kommt es zwischen denen auch nochmal zum Krieg oder zu Auseinandersetzungen. Anders gesagt, es gibt viele offene Fragen.
In den zurückliegenden Jahren haben sich Syrer so oft einbürgern lassen wie keine andere Ausländergruppe. Wie groß wird gerade bei diesen Deutsch-Syrern das Interesse sein, zurückzukehren?
Wie gesagt: Aus der Migrationsforschung wissen wir, dass Migranten, die aus ihren Heimatländern fliehen aufgrund von Krieg oder wirtschaftlichen Faktoren, durchaus bereit sind wieder zurückzukehren. Migrationsströme hören meist dann auf, wenn das Heimatland eine gewisse Sicherheit erreicht hat und die Entwicklung so fortgeschritten ist, dass die Lebensstandards ähnlich sind wie in der neuen Heimat. Ein Syrer, der einen bestimmten Lebensstandard in Deutschland erreicht hat, wird versuchen, diesen Lebensstandard auch in Syrien wieder zu haben. Und solange er das in Syrien nicht findet, wird er nicht so einfach freiwillig zurückkehren. Gerade dann nicht, wenn er mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft hat.
FDP versucht in migrationsskeptischen Teichen zu fischen
Wie stark werden die hier lebenden Syrer nun von den Parteien im Bundestagswahlkampf instrumentalisiert werden?
Das hat schon längst begonnen. Nach ihrem D-Day-Debakel versucht die FDP nun in migrationsskeptischen Teichen zu fischen. Auch die anderen Parteien, die sich Migration auf die Fahnen geschrieben haben, werden für eine Rückführung der Syrer werben. Aber alle werden an rechtliche Grenzen stoßen. Denn wer subsidiären Schutz oder ähnliches genießt, kann nicht einfach so zurückgeschickt werden. Und es ist erst recht nicht möglich, Syrern die deutsche Staatsbürgerschaft zu entziehen. Wir erleben also reines politisches Säbelrasseln.