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Im Auge des Sturms: Corona-Pandemie wütet in Lateinamerika

Neue Gräber auf dem Friedhof «Nossa Senhora Aparecida» in Manaus, Brasilien.
Neue Gräber auf dem Friedhof «Nossa Senhora Aparecida» in Manaus, Brasilien.

Die Infektionszahlen explodieren, das Gesundheitswesen gerät an seine Grenzen, die Wirtschaft geht in die Knie: In keiner anderen Region ist die soziale Ungleichheit so krass wie in Lateinamerika - in der Corona-Krise fürchten viele Menschen den Hunger mehr als das Virus.

Rio de Janeiro (dpa) - Nach Asien, Europa und den USA hat die Corona-Pandemie nun Lateinamerika mit voller Kraft erwischt. In der Region trifft das Virus auf unterfinanzierte Gesundheitssysteme, Millionen Arme ohne soziale Absicherung und eine generelle Skepsis gegenüber staatlichen Anordnungen.

Die Regierungen reagieren ganz unterschiedlich auf den unsichtbaren Feind: Die einen setzen ihr ganzes Land unter Quarantäne, die anderen machen einfach so weiter wie bisher. Ein Blick auf das Infektionsgeschehen zwischen dem Rio Grande und Feuerland:

BRASILIEN: Das größte und bevölkerungsreichste Land der Region ist der neue Hotspot der weltweitweiten Corona-Pandemie. Fast eine halbe Million Menschen hat sich nachweislich mit dem neuartigen Coronavirus infiziert, über 26.000 Patienten sind bereits gestorben. Der rechtspopulistische Präsident Jair Bolsonaro hingegen tut das Virus als «leichte Grippe» ab und will so schnell wie möglich zur Normalität zurückkehren. Minister, die Bedenken äußern, werden gefeuert. Gouverneure, die auf eigene Faust Schutzmaßnahmen anordnen, beschimpft der Ex-Militär als «Haufen Mist».

Während im Ausland Unverständnis und Entsetzen über Bolsonaros Corona-Politik herrscht, könnte seine Botschaft bei vielen Brasilianern verfangen. Mindestens 40 Prozent haben keinen Arbeitsvertrag, keine soziale Absicherung und keine Rücklagen. «Die Leute haben mehr Angst, vor Hunger zu sterben als vor dem Coronavirus», sagt der Deutsche Bernhard Weber, der in den Favelas von Rio de Janeiro Lebensmittelpakete verteilt. Gut möglich, dass Bolsonaro sogar als politischer Gewinner aus der Krise hervorgeht.

MEXIKO: Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador konnte mit dem Konzept des Abstandhalten noch nie so recht etwas anfangen. «Man muss sich umarmen, da passiert schon nichts», pflegt der Linkspopulist zu sagen, der bei seinen Auftritten Babys küsst, Großmütter herzt und Männer umarmt. Nachdem die Infektionszahlen in dem zweitgrößten Land Lateinamerikas immer weiter stiegen, erklärte die Regierung zwar doch den Gesundheitsnotstand und schickte nicht essenzielle Branchen in eine Zwangspause.

Nun befindet sich Mexiko mitten in der heißen Phase der Pandemie - mit mehr als 8000 Toten ist es unter den zehn Ländern mit den meisten Opfern. Trotzdem soll Mexiko ab Beginn kommender Woche schrittweise zu einer «neuen Normalität» zurückkehren. Landesvater López Obrador dürfte das freuen: Gleich am Montag will er zu einer fünftägigen Rundreise durch Mexiko aufbrechen. Bei seinen öffentlichen Auftritten werde er «eine gesunde Distanz» wahren, verspricht er.

NICARAGUA: Boxturniere, Festivals, Unterricht in vollen Klassensälen - in dem mittelamerikanischen Land geht das Leben seinen gewohnten Gang, als wäre nie etwas gewesen. Der autoritäre Präsident Daniel Ortega glaubt, das Coronavirus sei «ein Zeichen Gottes», dass die Welt einen falschen Weg eingeschlagen habe. Nach offiziellen Angaben gibt es bislang rund 750 Infizierte und gut drei Dutzend Tote. Menschenrechtler und Aktivisten werfen der sandinistischen Regierung allerdings vor, das wahre Ausmaß der Krise zu verschleiern. Berichten zufolge sollen Tote nachts aus den Krankenhäusern geholt und eilig verscharrt werden.

ARGENTINIEN: Trotz des wohl härtesten Lockdowns in der Region wird der schlimmste Alptraum der argentinischen Regierung nun Realität: Die Corona-Pandemie hat die Elendsviertel im Speckgürtel rund um Buenos Aires erreicht. In den sogenannten Villas leben ganze Familien auf wenigen Quadratmetern zusammen - an Abstandhalten ist hier nicht zu denken. In nur einer Woche haben sich die Fälle in den Slums verdreifacht. «Unsere Anstrengungen und unsere Arbeit konzentriert sich jetzt ganz auf die Armenviertel», sagte zuletzt Präsident Alberto Fernández.

Seit Mitte März gelten in dem südamerikanischen Land recht strenge Ausgangsbeschränkungen. Mit rund 14 000 Infizierten und 500 Toten hat Argentinien die Pandemie noch recht gut unter Kontrolle. Doch wenn das Virus nun in den Villas herumgeht, könnten die Zahlen schnell in die Höhe schießen. «Wir haben eine sehr große Bevölkerung im Ballungsraum. Wenn sie alle zusammen krank werden, bricht das System zusammen», sagte der Gesundheitsminister der Provinz Buenos Aires, Daniel Gollán.

CHILE: Ganz Santiago steht unter Quarantäne - viele Menschen können nicht mehr zur Arbeit. In einigen Vierteln der chilenischen Hauptstadt gehen die Menschen nun auf die Straße, um Hilfe von der konservativen Regierung einzufordern. Barrikaden brennen, Demonstranten werfen Steine auf die Polizei, die Beamten gehen mit Tränengas und Wasserwerfern gegen die Protestierenden vor. Ein Polizist wurde bei den Krawallen angeschossen.

«Die wirtschaftliche Lage besorgt uns sehr. Die Leute beginnen, Hunger zu leiden, und das Gesundheitswesen kollabiert», sagte die Bürgermeisterin der Ortschaft La Pintana, Claudia Pizarro, dem Radiosender Cooperativa. Jetzt will die Regierung Lebensmittelpakete verteilen. Angesichts des Ansturms auf die Krankenhäuser schlagen auch Mediziner Alarm: Fast alle Intensivbetten seien belegt, teilte die Ärztekammer mit und warnte vor einem moralischen Dilemma, sollten Mediziner bald dazu gezwungen sein, zu entscheiden, wer an ein Beatmungsgerät angeschlossen werde und wer nicht.