Ein normaler Arbeitstag wird zum Alptraum

Ein normaler Arbeitstag wird zum Alptraum: Bei einem Termin in Westminster sprach Handelsblatt-Autorin Kerstin Leitel zunächst mit Abgeordneten über den Brexit – und erlebte dann, was bei dem Anschlag dort geschah.

Als mich an dem regnerischen Mittwochmorgen die Wachleute vor dem Londoner Parlament anhalten, scherze ich: „Nein, ich habe keine scharfen Gegenstände bei mir – und auch kein iPad“, sage ich zu den beiden schwerbewaffneten Polizisten, die den Eingang bewachen. Sie lachen, lassen mich passieren.

Am Eingang zum Parlament laufe ich an einem Bildschirm vorbei, an dem der aktuelle Gefährdungsstatus steht: „severe“ - ernst. Es ist ein Tag wie viele andere. Doch keine sechs Stunden später ist alles anders. Vermummte Einsatzkräfte mit Maschinenpistole im Anschlag rennen die Flure des sonst so ehrwürdigen Parlamentsgebäudes ab, reißen die Türen auf. „Move, move, move“ schreien sie die Menschen an, die sich in den Räumen aufhalten.

Ich hatte an diesem Mittwoch einen Termin in Westminster. Gut ein Dutzend Journalisten ausländischer Medien waren eingeladen worden, um einen Blick hinter die Kulissen des britischen Parlaments zu werfen. Ehrfürchtig waren wir über die plüschigen Teppiche im House of Commons gelaufen, hatten vor den grünen Bänken im Parlamentsaal gestanden, auf denen sonst Premierministerin Theresa May, ihr Kabinett und die anderen Abgeordneten debattieren.

Beim Lunch mit Abgeordneten war das allgegenwärtige Thema noch der Brexit. Die Erwartungen der Briten in den Austrittsverhandlungen, die Stimmung im Land, das geplante Unabhängigkeitsreferendum der Schotten. Danach ging es in das House of Lords, entlang der dunkelbraunen, holzvertäfelten Gänge. Wir gingen in einen Sitzungsraum. Und auf einen Schlag veränderte sich die Welt.

Vor dem Fenster ist ein kurzes Rufen zu hören. Die Bildschirme für die Abgeordneten schalten um: Die laufende Parlamentsdebatte wird unterbrochen. „Ein Anschlag“, sagt jemand. Auf dem Flur telefonieren leise Abgeordnete.

Hektisch laufen alle in einen Innenhof des Parlamentsgebäudes. Die Sonne scheint, es wirkt wie eine Übung. David Davis, der Brexit-Minister, hat gerade noch Selfies mit Schulkindern gemacht. Doch direkt hinter dem Torbogen des Innenhofes ist der Tatort.

Polizisten sichern den Eingang zum Parlament, den ein Attentäter überwunden hatte. Die Stimmung schlägt um. Kinder singen. Es soll wohl aufheitern. Doch zusammen mit den Hubschraubern, die ständig über uns kreisen, wirkt es unheimlich. Das Parlamentsgelände ist im Ausnahmezustand: Keiner kommt hinein oder hinaus.


„Es war klar, dass so etwas passieren würde“

Zwei Stunden lang verharren wir im Innenhof, abgesichert von schwerbewaffneten Einsatzkräften. Nach einer gefühlten Ewigkeit verlassen wir den Platz. Wir passieren den Tatort. Alle verstummen, viele blicken zu Boden.

Wir werden nach Westminster Abbey geführt, zu der Kirche, in der traditionell die britischen Könige gekrönt werden. Unter ihren gotischen Torbögen warten wir auf die Nachricht, dass London wieder sicher ist. Doch diese Nachricht kommt nicht.

Es gibt Tee und Kekse, die Menschen sitzen in der kalten Kirche und hoffen, dass die Polizisten Entwarnung geben. „Angst habe ich nicht“, sagt ein Parlamentsmitarbeiter. „Es war klar, dass so etwas passieren würde“.

Nach Stunden werden von der Polizei die Daten aller Anwesenden aufgenommen – sie sucht Zeugen. Dann endlich werden wir nach draußen gelassen. In eine Stadt, die sich verändert hat.

Es ist leer. Polizisten patrouillieren mit Hunden die Straße, leuchten mit Taschenlampen in die Ecken. Hubschrauber kreisen noch immer am Himmel, Polizeisirenen sind zu hören. „Sorry“, sagt eine Anwältin, mit der ich zur Bahn laufe, in der für Briten typischen Art. „Es tut mir leid, dass du das miterleben musstest.“ Am Donnerstag wird das Parlament wieder tagen.