Bergsteigen als Eskapismus? - Karl-Theodor zu Guttenberg: Auf dem mythischen Ararat komme ich ins Grübeln
Keuchend auf dem Gipfel des Ararat, wo Noah seine Arche geparkt haben soll, denke ich an einen alten Dialog: Ist Bergsteigen Eskapismus? Während die Höhenluft mir den Atem raubt, weitet der Abstand meinen Blick – auf Leben, Krisen und das, was wirklich zählt.
Vorgestern bin ich auf den Gipfel des mythenumwobenen Ararat gestiegen. Keuchend. Ein kümmerlicher Rest der leidlich Bibelfesten wird sich daran erinnern, dass der 600-jährige Noah seine Arche dort geparkt haben soll. Den Strapazen der Höhenluft wird er - anders als ich - seinen nicht mehr allzu jugendfrischen Körper kaum ausgesetzt haben. Entsprach doch die Bergspitze nach der Sintflut dem Meeresspiegel.
Noah konnte wohl auch Bergsteigern nichts abgewinnen. Der koranischen Überlieferung zufolge soll einer seiner Söhne versucht haben, der Katastrophe durch Erklimmen eines Berges zu entkommen. Er ertrank.
„Erschwitzter Eskapismus“ und andere Gipfelgedanken
Diese Geschichte erzählte mir vor vielen Jahren ein seltsamer Kauz. Ich kannte den “Spin off” zum Klassiker trotz klerikaler Druckbetankung meiner Familie nicht. Dem Kauz - ein bewegungsfauler, alltagszynischer Journalist - ging es aber gar nicht um die alttestamentarische Gestalt.
Er fand “Alpinisten und andere Kraxler” schlicht verzichtbar:
„Für mich sind Bergtouren nichts anderes als eine merkwürdige Form der Realitätsflucht.”
„Wie meinst Du das?”
„Erschwitzter Eskapismus alternder Lebensgesättigter”, er freute sich sichtlich an seinem Gedanken. „Was nutzt mir ein Gipfel, wenn sich das eigentliche Leben hier unten abspielt?”
Meine Gegenargumente überzeugten ihn damals nicht. Stattdessen zog er genüsslich an seiner Zigarette. Er starb zu früh. Lebensgesättigt wirkte er nicht.
Am Ararat musste ich an den Dialog denken. Wenn man sich in den Camps der 5000m+ Berge umsieht, erscheint die Zahl der Midlife-Crisis-Bewältiger bemerkenswert hoch. Manche wuchten neben der Last des Lebens auch den fleischgewordenen Umfang ihres Lebensstils nach oben.
Vom Gipfel offenbarte sich eine atemberaubend schöne Landschaft, die die Krisen und Spannungen der umliegenden Länder und Gebiete für einen Moment vergessen ließ. Im Iran, in Armenien und im kurdischen Gebiet der Türkei.
Der seltsame Kauz hätte genau diesen Umstand als Beweis für eine Realitätsflucht aufgegriffen: „Wie Puderzucker auf einem verbrannten Kuchen”.
Ich sehe es anders. Distanz schützt nicht vor der Gewissheit, dass Menschen sich und ihrer Umwelt Gewalt antun. Im besten Fall weitet Abstand den Blick. Und: als „alternder Lebensgesättigter“ bin ich mittlerweile für jeden Schritt dankbar. Egal in welche Richtung.
Life is Pain au chocolat
Gestern morgen. Die 13 Stunden Auf- und Abstieg vom Vortag haben ihre Spuren hinterlassen. Als ich mich mit altersgerechtem Muskelkater in die Dusche schleppe, stört das Mobiltelefon mit einem “Ping”. Die Textnachricht eines Freundes, der von der Reise wusste. Er schickt ein Bild. Es zeigt ein Graffito: Life is Pain.
Er hat einen Punkt, denke ich mir, und übersehe fast den Zusatz auf dem Foto: „Life is Pain au chocolat“. Ein wunderbarer Kalenderspruch. Ich kannte ihn nicht. Wie Noahs Sohn. Zuweilen entgeht einem ein Satz, der das Leben erleichtert, da man die Sinne nur auf die Belastungen richtet.