Nato leitet offiziell Rückzug aus Afghanistan ein

Die Nato leitet nach der Rückzugsentscheidung der USA das Ende ihres Einsatzes in Afghanistan ein.

US-Präsident Joe Biden hatte zuvor ankündigen lassen, dass die USA als größter Truppensteller in dem Krisenstaat ihre Soldaten nach 20 Jahren zum 11. September nach Hause holen - dem 20. Jahrestag der Terroranschläge von New York und Washington. Für die Partner wäre eine Fortführung des Einsatzes deswegen nur noch mit erheblichen Zusatzkosten und Risiken möglich gewesen.

Biden sagte in Washington: "Es ist Zeit, Amerikas längsten Krieg zu beenden. Es ist Zeit für die amerikanischen Truppen, nach Hause zu kommen." Man könne die Militärpräsenz nicht immer wieder in der Erwartung verlängern oder vergrößern, die "idealen Bedingungen" für einen Abzug zu schaffen. Ziel des Afghanistan-Einsatzes sei gewesen sicherzustellen, dass das Land nicht wieder ein Ort sein könne, von dem aus Terroristen die USA angreifen könnten. "Das haben wir gemacht", sagte er. "Wir haben das Ziel erreicht."

Der US-Präsident betonte zugleich: "Obwohl wir in Afghanistan nicht weiter militärisch involviert sein werden, wird unsere diplomatische und humanitäre Arbeit weitergehen Die USA würden Afghanistans Regierung, die Sicherheitskräfte und auch die Friedensverhandlungen mit den Taliban weiter unterstützen.

Soldaten der 10th Mountain Division kehren im Dezember 2020 aus Afghanistan zurück (Bild: John Moore/Getty Images)
Soldaten der 10th Mountain Division kehren im Dezember 2020 aus Afghanistan zurück (Bild: John Moore/Getty Images)

Deutschland und die anderen Nato-Staaten haben Afghanistan nach der Entscheidung für ein Ende des Militäreinsatzes weitere Unterstützung zugesichert. "Der Abzug unserer Truppen bedeutet nicht, unsere Beziehungen zu Afghanistan zu beenden", heißt es in einer am Mittwochabend veröffentlichten Erklärung der Außen- und Verteidigungsminister der Mitgliedstaaten.

Man werde dem Land, seinem Volk und seinen Institutionen auch in Zukunft bei der Förderung der Sicherheit und der Wahrung der Errungenschaften der vergangenen 20 Jahre zur Seite stehen. Die Abzugsentscheidung sei lediglich der "Anfang eines neuen Kapitels".

Zum Zeitplan des Rückzugs heißt es in der Erklärung, der Abzug der Soldaten des Ausbildungseinsatzes "Resolute Support" werde bis zum 1. Mai eingeleitet und solle "innerhalb weniger Monate" abgeschlossen sein. Sollten die militant-islamistischen Taliban während des Rückzugs Angriffe auf alliierte Truppen verüben, werde dies mit einer entschlossenen Reaktion beantwortet werden.

Zurzeit sind noch etwa 10.000 reguläre Soldaten aus Nato-Ländern und Partnernationen in Afghanistan. Sie sollen die demokratisch gewählte Regierung durch die Ausbildung und Beratung von Sicherheitskräften in ihrem Kampf gegen islamistische Extremisten wie die Taliban unterstützen. Deutschland hat zurzeit rund 1100 Soldaten vor Ort und ist damit der zweitgrößte Truppensteller nach den USA.

Bundeswehrsoldat 2010 in Kundus (Bild: REUTERS/Fabrizio Bensch)
Bundeswehrsoldat 2010 in Kundus (Bild: REUTERS/Fabrizio Bensch)

Die Bundeswehr könnte nach den Plänen der Bundesregierung bis Mitte August aus Afghanistan abgezogen werden. Das sagte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) am Mittwoch in einer telefonischen Unterrichtung der Fachpolitiker aller Bundestagsfraktionen zu den Abzugsplänen, wie die Deutsche Presse-Agentur von mehreren Teilnehmern erfuhr.

Mit der Entscheidung steht für die Bundeswehr der verlustreichste Einsatz ihrer Geschichte vor dem Ende. 59 deutsche Soldaten ließen in Afghanistan ihr Leben, von ihnen wurden 35 in Gefechten oder bei Anschlägen getötet. Afghanistan ist zudem der zweitlängste Auslandseinsatz der Bundeswehr nach der Kosovo-Mission, die bereits 1999 begann.

Mit Spannung wird nun erwartet, welche Konsequenzen die Abzugsentscheidung für die laufenden Friedensverhandlungen der afghanischen Regierung mit den militant-islamistischen Taliban hat. Als ein Risiko wird gesehen, dass die Taliban kurz nach einem Truppenabzug mit Waffengewalt die Macht übernehmen könnten. Für die junge Demokratie in Afghanistan und Fortschritte bei Frauenrechten oder Medienfreiheit dürfte eine solche Entwicklung der Todesstoß sein.

Die Taliban hatten zuvor auf dem Abzug aller US- und Nato-Truppen aus Afghanistan bereits bis zum 1. Mai bestanden. Man strebe den Abzug aller ausländischen Streitkräfte zum per "USA-Taliban-Abkommen" festgelegten Datum an, schrieb Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid am Mittwoch auf Twitter. Falls die Vereinbarung gebrochen werde, würden sich die "Probleme verschärfen". Mit Blick auf die USA und andere Truppensteller fügte er hinzu, dafür seien dann jene haftbar, die sie nicht eingehalten hätten.

Delegation der Taliban im September 2020 in Doha (Bild: REUTERS/Ibraheem al Omari)
Delegation der Taliban im September 2020 in Doha (Bild: REUTERS/Ibraheem al Omari)

Wenn die Vereinbarung eingehalten werde, werde auch ein Weg gefunden, um die verbleibenden Probleme anzugehen, schrieb Taliban-Sprecher Mudschahid weiter. Damit spielte er wohl auf den laufenden innerafghanischen Friedensprozess an. Friedensverhandlungen zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban laufen seit September im Golfemirat Katar. Sie waren zuletzt aber ins Stocken geraten. Auch an einer US-initiierten Friedenskonferenz für Afghanistan in der Türkei wollen die Taliban nicht teilnehmen, bevor alle ausländischen Truppen abgezogen sind.

Afghanische Offizielle hatten ihre Enttäuschung über den bedingungslosen Abzug der US-Truppen zum Ausdruck gebracht. Es sei das "Verantwortungsloseste und Egoistischste", was Amerika seinen afghanischen Partnern habe antun können, sagte ein Mitglied des Verhandlungsteams der afghanischen Regierung bei den Friedensgesprächen in Doha, der namentlich nicht genannt werden wollte, am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur.

Weiter sagte das Mitglied des Verhandlungsteams, der Abzug möge das Ende des Krieges für die USA sein, aber die afghanischen Partner würden den Preis dafür zahlen. Die USA hätten den Krieg mit etwas mehr Geduld auf verantwortungsvolle Weise beenden können, meinte er. Der Abzug der internationalen Truppen war die Hauptforderung der militant-islamistischen Taliban. Nun bleiben der afghanischen Regierung kaum mehr Druckmittel in den Verhandlungen mit den Extremisten.

Die langjährige Chefin der afghanischen Menschenrechtskommission, Simar Samar, nannte den bedingungslosen Abzug "unglücklich". Der Abzug hätte an Konditionen geknüpft und auf verantwortungsvolle Weise geschehen sollen, sagte sie.

Angehörige gedenken im September 2020 auf einem Friedhof der Opfer eines Selbstmordanschlags auf ein Erziehungszentrum im Jahr 2018 (Bild: REUTERS/Mohammad Ismail)
Angehörige gedenken im September 2020 auf einem Friedhof der Opfer eines Selbstmordanschlags auf ein Erziehungszentrum im Jahr 2018 (Bild: REUTERS/Mohammad Ismail)

Die Islamische Republik Afghanistan respektiere die US-Entscheidung, schrieb der afghanische Präsident Aschraf Ghani nach einem Telefongespräch mit dem US-Präsidenten Joe Biden am Mittwoch auf Twitter. Man werde mit den US-Partnern zusammenarbeiten, um einen reibungslosen Übergang zu gewährleisten. Zudem wolle man weiter mit den USA und der Nato an den laufenden Friedensbemühungen arbeiten, schrieb Ghani weiter. Der Präsident versicherte gleichzeitig, dass die Sicherheitskräfte des Landes in der Lage seien, das Land und die Bevölkerung zu verteidigen.

Die Zahl der zivilen Opfer im Afghanistan-Konflikt hat im ersten Quartal deutlich zugenommen. Die UN-Mission in dem Krisenstaat (Unama) verzeichnete einen Anstieg von getöteten und verwundeten Zivilisten von fast 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, heißt es in einem am Mittwoch veröffentlichten Bericht. Demnach starben von Januar bis März mehr als 570 Zivilisten, weitere mehr als 1210 wurden verwundet.

Besonders besorgniserregend sei der Anstieg der Zahlen getöteter und verletzter Frauen um 37 Prozent und von Kindern (plus 23 Prozent), heißt es in dem Bericht weiter. Der Anstieg der Opfer im ersten Quartal sei hauptsächlich auf Bodeneinsätze, improvisierte Sprengkörper und gezielte Tötungen zurückzuführen. Unama erinnerte in dem Bericht daran, dass das gezielte Töten von Zivilisten nach internationalem Recht verboten sei und ein Kriegsverbrechen darstelle.