263 Euro für Job in Behindertenwerkstatt - Der Monatslohn von Peter Kaiser zeigt, wie wenig Inklusion uns Deutschen wert ist

Als Kind wurde Peter Kaiser von einem Auto angefahren und erlitt schwere Hirnschäden. Für die Arbeit in einer Behindertenwerkstatt bekommt der 44-Jährige aber kaum Geld. Er findet das unfair. Der Staat sollte sich fragen: Geht man so mit den Schwächsten um?

Peter Kaiser, 44, sitzt am Küchentisch seiner Freiburger Wohnung und kramt angestrengt in Unterlagen. Dann zieht er aus der Mappe ein Blatt Papier, auf dem viele Zahlen stehen. Am linken oberen Rand das Wort „Lohnabrechnung“. Peter Kaiser lächelt gequält. „Das ist kein Witz, sondern die bittere Wahrheit“, sagt er.

Mit dem Finger zeigt er auf die Zeile „tatsächliche Auszahlung“. Hinter dem Doppelpunkt steht in Fettschrift: 262,76.

262 Euro und 76 Cent. Das bekommt Peter Kaiser als Lohn. Im Monat!

Spontan fragt man sich: Was hat der Mann verbrochen, der jeden Tag um sechs aufsteht, fleißig arbeitet, acht Stunden abzüglich Frühstücks- und Mittagspause, von Montag bis Freitag, seit vielen Jahren?

Nun, verbrochen hat er nichts. Er hatte Pech.

Unfall als Schulkind: Überlebt, aber für’s Leben gezeichnet

Im Alter von neun Jahren lief er über die Straße, die Ampel zeigte für ihn Grün. Ein Autofahrer, der das Rotlicht übersah, fuhr einfach weiter und erfasste den Jungen.

Peter Kaiser wurde durch den Aufprall schwer verletzt. Er knallte mit dem Kopf gegen die Kühlerhaube und dann auf den Asphalt. Koma. Lebensgefahr. Operationen. Die Ärzte stellten ein großes Schädel-Hirn-Trauma fest.

Er brauchte ewig, um wieder auf die Beine zu kommen. Musste alles neu lernen. Sprechen. Schreiben. Laufen. Auf Toilette gehen. Leben.

Bis heute kämpft er mit den Folgen der Hirnschädigung. Peter Kaiser hat oft Mühe, die richtigen Worte zu finden, muss tief in seinem Gedächtnis kramen. Er wird leicht müde, verliert schnell die Konzentration, hat Muskelkrämpfe und epileptische Anfälle. Seine Bewegungen sind nicht immer flüssig. Er braucht für viele Dinge länger als andere Menschen.

 

Mit dem Wert „100“ wurde Peter Kaiser schon als Kind der schwerste Grad der Behinderung attestiert. Damit hat er Anspruch auf einige Vergünstigungen, wenn man bei einem solchen Schicksal überhaupt von Vorteilen sprechen kann. So bekommt er eine Woche bezahlten Zusatzurlaub und genießt besonderen Kündigungsschutz.

Andererseits wurde ihm keine Pflegestufe zugestanden, weil er die klassischen Kriterien nicht erfüllt. Er kann sich allein anziehen, waschen, kann selbstständig essen und in den Supermarkt gehen. Er ist weder psychisch krank noch geistig eingeschränkt.

Peter Kaiser ist froh, Arbeit zu haben – doch der mickrige Lohn ärgert ihn

Peter Kaiser ist froh, arbeiten zu können. Die Beschäftigung in einer Werkstatt für Behinderte gibt ihm Halt und Struktur. Er fühlt sich gebraucht. Irgendwie. Das ist die eine Seite.

Die andere Seite hält er gerade in den Händen. Seinen Gehaltszettel.

262 Euro und 76 Cent. Eigentlich unfassbar. Ein Stundenlohn von nicht einmal zwei Euro. Dabei gehört Peter Kaiser durch individuelle Zulagen noch zu den „Gutverdienern“. Das durchschnittliche Entgelt in deutschen Behindertenwerkstätten liegt bei rund 220 Euro im Monat.

Ist das gerecht? Ist das fair?

Ist es das, was die Gesellschaft, was der Staat für die Schwächsten auszugeben bereit ist?

Kann man, darf man so mit schwerbehinderten Menschen umgehen? Bringt man ihnen damit Respekt und Wertschätzung entgegen?

Peter Kaiser, breite Schultern, hellbraune Basecap, eckige Brille mit leichtem Metallrahmen, kann seine Enttäuschung nicht verbergen. „Das ist schon ziemlich wenig“, sagt er im Gespräch mit FOCUS online. Auf die Frage, wie viel er sich wünschen würde, antwortet er: „Ich will nicht übertreiben. Aber 500 Euro im Monat fände ich schon cool.“

500 Euro im Monat? Davon träumen viele der mehr als 310.000 behinderten Menschen, die in bundesweit rund 700 Werkstätten arbeiten und von denen nur die wenigsten den Sprung auf den regulären Arbeitsmarkt schaffen. Doch es dürfte ein Traum bleiben.

Werkstatt-Mitarbeiter müssen durch Inklusions-Bürokratie

Politiker finden immer Gründe, warum der Lohn so niedrig ist wie er ist und warum man ihn nicht anheben kann etwa auf das Niveau des gesetzlichen Mindestlohns – obwohl für die Menschen alles teurer wird, Lebensmittel, Energie, Heizung, Bus, Bahn.

Nicht erst seit heute gibt es Kritik an den niedrigen Werkstatt-Löhnen sowie am gesamten System der Bezahlung. Betroffene und Experten fordern schon lange eine Regelung, die die geleistete Arbeit der Behinderten wirklich wertschätzt. Und die zugleich verhindert, dass sie auf weitere Sozialleistungen vom Staat angewiesen sind.

Viele Frauen und Männer, die in Werkstätten arbeiten, müssen derzeit durch die Mühlen der Inklusions-Bürokratie, um ihre Existenz sichern zu können. Das heißt: Sie füllen Anträge über Anträge aus. Auf Bürgergeld, Wohngeld, Kindergeld und so weiter. Viele von ihnen sind mit dem Formularkram überfordert. Ohne fremde Hilfe wären sie aufgeschmissen.

Das Schmerzensgeld rechnet der Staat als „Vermögen“ an

Peter Kaiser sagt, er habe nicht einmal Anspruch auf staatliche Unterstützung. Er müsse alles selbst bezahlen. Miete, Strom, Einkäufe, Kleidung, Ausflüge. „Nach meinem Unfall als Kind habe ich Schmerzensgeld bekommen“, erzählt er.

Für damalige Verhältnisse eine hohe Summe. Doch sie muss für sein ganzes restliches Leben reichen. Das Geld rechnen ihm die Behörden als „Vermögen“ an, so, als ob er es von einer reichen Tante geerbt oder im Lotto gewonnen hätte. Dabei stand es ihm zu. Er war Opfer. Ein Kind, das unverschuldet in eine Katastrophe hineingerissen wurde und nur knapp dem Tod entkam.

„Vermögen“ also. Schwer zu begreifen.

Monat für Monat zahlt sich Peter Kaiser einen Betrag aus, um über die Runden zu kommen. Sein Werkstattlohn von knapp 263 Euro – nicht viel mehr als ein symbolisches Zubrot.

Es geht weniger um Geld, sondern um Wertschätzung

Peter Kaiser ärgert sich. Er ist sauer. Dabei geht es ihm gar nicht vordergründig ums Geld.

Es geht ihm darum, dass man seine Leistung im Job anerkennt und würdigt. Dass man endlich wertschätzt, was er tut. Jeden Tag liefert er pünktlich und zuverlässig ab, ist fleißig und erledigt gemeinsam mit seinen Werkstatt-Kollegen gewissenhaft Aufträge, die große Unternehmen den Behinderten geben. Mit den fertigen Produkten machen sie gute Geschäfte.

Niemand behauptet, dass die Situation einfach wäre. Würden die Werkstätten ihren Leuten Mindestlohn zahlen, müssten sie, um die höheren Kosten zu decken, von den Auftraggebern mehr Geld verlangen. Deshalb geht bei den Werkstatt-Trägern die Angst um, sie würden dann keine oder viel weniger Aufträge aus der freien Wirtschaft erhalten.

Ob die Furcht berechtigt ist – schwer zu sagen.

Fakt ist: Gäbe es die Werkstätten nicht, müssten die Auftraggeber sich an „normale“ Firmen wenden, die dann auch entsprechend teurer wären.

Gut gemeintes Gesetz bringt in der Realität wenig

Aber auch für viele Behinderte selbst würde sich etwas ändern. Bekämen sie den Mindestlohn von derzeit 12,41 Euro, würden sie bestimmte Einkommensgrenzen überschreiten und dadurch Anspruch auf andere staatliche Leistungen verlieren. Ein Teufelskreis.

Gelöst werden könnte das Problem laut Experten nur durch eine grundlegende Reform des Systems. In jedem Fall aber, da sind sich die Fachleute einig, müsse der Staat finanzielle Unterstützung leisten.

Im Frühjahr 2023 verabschiedete der Bundestag das „Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts“. Ziel ist es, ein gleichberechtigtes und selbstbestimmtes Arbeitsleben für Menschen mit Behinderung zu schaffen. Dazu zählt auch eine faire, angemessene Entlohnung. Aber wie das so ist mit gut gemeinten Gesetzen – die Realität sieht oft anders aus.

„Meine Arbeit macht mir Spaß“ - doch sie schlaucht auch

Peter Kaiser sitzt hoch konzentriert an seinem Arbeitstisch in der Freiburger Behinderten-Werkstatt. Seit fast zehn Jahren erfüllt er hier seine Aufgaben.

Er montiert Plastikteile, die später in Sensoren einer weltweit agierenden Technologiefirma verbaut werden. Einfache, aber wichtige Handarbeiten. Manchmal füllt er Gewürze ab oder arbeitet im Lager. Er schraubt, hämmert, stanzt, sortiert, wiegt ab, gibt seinen Rollstuhl-Mitstreitern Tipps – und hat Freude daran. „Meine Arbeit macht mir Spaß“, sagt er. Aber sie schlaucht auch.

Wenn er Feierabend hat, fährt er mit der Straßenbahn nach Hause und ruht sich aus. „Ich muss ich mich dann erst mal hinlegen und eine Runde schlafen. Ich bin dann oft richtig platt. Vielleicht liegt das auch an den Tabletten, die ich nehmen muss.“

Der 44-Jährige lebt allein in einer Wohnung mit seinen beiden Katzen Mogli und Maili. Wenn er auf Behörden muss oder zum Neurologen, ist er auf Unterstützung angewiesen. Seine Schwester und seine Mutter helfen ihm, so gut es geht.

Neulich hat der Baden-Württemberger seinen Rentenbescheid in den Händen gehabt. 1220,66 Euro wird er später einmal bekommen. Wie erniedrigend. Manchmal fragt er sich, was aus ihm geworden wäre, wenn das Auto angehalten hätte. Müßig, darüber nachzudenken. Verschüttete Milch.

Peter Kaiser: „Im Alltag müssen wir um alles hart kämpfen“

Wenn er Bundessozialminister Hubertus Heil von der SPD treffen würde, der in Deutschland für Behinderte zuständig ist, welchen Wunsch würde er äußern?

Peter Kaiser denkt einige Sekunden nach. Seine Stimme bricht. Die Gesichtsmuskeln verkrampfen. Einer seiner vielen Anfälle. Dann sagte er: „Dass in der Gesellschaft mehr über uns geredet wird, dass man uns mehr beachtet, uns ernst nimmt.“

Inklusion sei ein großes Wort, eine schöne Idee. Chancengleichheit, gleichberechtigte Teilhabe, Anerkennung, Respekt, Wertschätzung – in der Theorie alles prima. „Aber im Alltag müssen wir um alles hart kämpfen“, sagt der Freiburger. Selbst um ein paar Euro mehr Lohn.

Morgen früh um sechs Uhr klingelt wieder der Wecker. Peter Kaiser wird aufstehen, sich anziehen und zur Arbeit fahren. Alles wird so sein wie immer.

Ob sich irgendwann etwas auf seinem Gehaltsschein ändert – man kann es ihm und all seinen Werkstatt-Kollegen nur wünschen.

Sicher ist das nicht.