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Geschichten von Liebe und Tod: Melancholische Youtube-Kommentare

"Da war die Welt noch in Ordnung". Unter Youtube-Videos, wie hier bei Luther Vandross, stehen oft schwermütige Kommentare. (Bild: Screenshot Youtube)
"Da war die Welt noch in Ordnung". Unter Youtube-Videos, wie hier bei Luther Vandross, stehen oft schwermütige Kommentare. (Bild: Screenshot Youtube)

Die Kommentare auf Youtube sind eine Ansammlung pubertärer Beschimpfungen, Ausrufezeichen und skurriler Verschwörungstheorien. Doch zwischen all dem Hass und Unsinn sind herzzerreißende Geschichten versteckt. Sie handeln von Liebe und Verlust, Freude und Tod. Der kanadische Filmemacher Mark Slutsky sammelt die melancholischen Erinnerungen in einem Blog.

„Ich war 24, sie war 32. Dies war das Lied, zu dem wir tanzten, in dieser Samstagnacht im August 1981. Wir blieben für 18 Monate zusammen, haben sogar ein gemeinsames Kind. Ich denke immer noch an sie, frage mich, was sie wohl gerade macht“ erinnert sich einer bei dem Lied „Inside Out“ von Odyssey. Wenn „helenolivari“ Luther Vandross‘ „Never Too Much“ hört, reist sie in die Vergangenheit. „Das war das einzige Lied, das ich jemals mit einem meiner Freunde teilte, es war unser Lied. Wenn ich es jetzt höre, bin ich wieder in den frühen 80er-Jahren, als ich verliebt und mit der Welt alles in Ordnung war“, schreibt sie. Doch ein Happy End war den beiden nicht vergönnt. „Wenn er mich nicht betrogen hätte, wären wir vielleicht immer noch zusammen“, erzählt sie.

Jeder von uns verbindet mit Liedern bestimmte Ereignisse. Der Song „Everywhere“ von Fleetwood Mac erinnert den User „sokatzo“ sowohl an schöne Zeiten als auch an einen furchtbaren Moment. „Zu diesem Lied habe ich mit meinen Geschwistern schon als Kind getanzt, bis uns ganz schwindelig wurde. Letzte Woche starb mein ältester Bruder. Die letzte Musik die wir zusammen gehört haben, war Fleetwood Mac. Unglaubliche Erinnerungen“, schreibt er. Einer erinnert sich an eine Zugfahrt, er fuhr nachts durch die Pariser Vororte, hörte „Blue Calx“ von Aphex Twin. „Ich war ganz alleine im Abteil, guckte aus dem Abteil auf den gelben Dunst, der da von den riesigen Lichtern an den Lagerhäusern kam, auf Jahrzehnte alte verrottende Graffiti schien. Einer der einsamsten Momente.“

Auf der Videoplattform verstecken sich die Autoren hinter Pseudonymen, doch mit ihren Kommentaren lassen sie die ganze Welt an ihren Gedanken teilhaben und werden so ein Stück weniger anonym. All die Erinnerungen an besondere Momente aus dem Leben von fremden Menschen sammelt Mark Slutsky in seinem Blog „sadyoutube.com“. Die Youtube-Kommentare hätten ihn schon immer fasziniert, schreibt der Kanadier.

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„Zwischen all dem Hass und den Verschwörungstheorien kann man diese tollen Brocken Menschlichkeit finden, herzzerreißende Momente aus dem Leben der Menschen, die ein alter Song wieder hervorruft“, findet er. Es sind Geschichten von Liebe und Verlust, Tod und Krankheit, Freunde und Familie. Ein Stück Poesie. „Ich will all dies sammeln, bevor es in der riesigen Kommentarlawine für immer verschwindet“, erklärt Slutsky. Der Sammler glaubt sogar, mit all den Kommentaren eine Art Oral History der Amerikanischen Geschichte schreiben zu können. Unter den vielen Videoschnipseln fühlen sich die Nutzer erinnert an den Vietnamkrieg, an Footballspiele, an Präsidentschaftswahlen. Auch die Kommentare der deutschen Nutzer – Slutsky sammelt diese noch nicht - sind oftmals eine Reise in die Geschichte des Landes und vor allem in die Vergangenheit der Menschen.

Udo Lindenbergs „Sonderzug nach Pankow“ versetzt „elvisbetti“ zurück in die Zeit in der DDR, als Musik aus Westdeutschland verboten war. „Durch das Lied bin ich damals auch ein Freund von ihm geworden. Hab's laut auf dem Balkon gehört und dann Schiss bekommen, dass es jemand Falsches gehört haben könnte. Tja, so eingeschüchtert waren wir.“, schreibt sie. Wenn es „Eyewillrecognize“ schlecht geht, klickt er sich zu „Halt an deiner Liebe fest“ von Ton, Steine, Scherben. „Dieses Lied tröstet einen über einen schlechten Tag weg. Obwohl es nicht „meine Zeit“ ist, höre ich die Scherben wirklich gerne und hätte gerne in der Zeit gelebt, wo Musik noch dem Sinn und Zweck diente, den Menschen eine gewisse Botschaft zu vermitteln ohne den Gedanken der Geldmacherei im Hinterkopf zu haben“, meint er.

Das Geschichtenbuch in den Youtube-Kommentaren ist unerschöpflich, täglich werden neue Erinnerungen nieder getippt - man muss nur genau hingucken.