Rushhour des Lebens: Stress ist Staatsaufgabe

In der "Rushhour" stauen sich die Aufgaben - privat wie beruflich (Bild: ddp Images)
In der "Rushhour" stauen sich die Aufgaben - privat wie beruflich (Bild: ddp Images)

Karriere machen, heiraten, Kinder kriegen: In den Jahren zwischen 28 und 38 stauen sich die Aufgaben, die Männer und Frauen zu bewältigen haben. Warum es junge Erwachsene in den Siebziger- und Achtzigerjahren noch wesentlich ruhiger angehen lassen konnten, erklärt der Berliner Soziologe Hans Bertram. Er hat für das Leben auf der Überholspur den Begriff „Rushhour" geprägt — und außerdem eine Idee, wie Vater Staat uns das Leben leichter machen könnte.

Hans Bertram ist 66 Jahre alt. „Da fängt das Leben an", befindet Udo Jürgens in einem seiner größten Schlager. Das allerdings sieht der Professor selbst, der seit 1992 den Lehrstuhl für Mikrosoziologie an der Berliner Humboldt Universität inne hat, ganz anders: „So richtig an Fahrt gewinnt das Leben im Alter von 28 bis 38 — wenn Männer und Frauen, die sich mit Anfang 20 noch in aller Ruhe ausprobiert haben, auf einmal das Ticken ihrer biologischen Uhr wahrnehmen." Und dann muss plötzlich, nach Jahren des Studiums, der interessanten Praktika und Auslandsaufenthalte, alles furchtbar schnell gehen: der Aufstieg im Job, die Wahl des richtigen Partners, die Nachwuchsproduktion, vielleicht der Hausbau.

„Die überforderte Generation"

Eine fast übermenschliche Aufgabe. „Nicht nur Ursula von der Leyen, auch die europäische Generalanwältin Juliane Kokott kriegt sechs Kinder und ihren Job auf die Reihe." Doch selbst, wenn Höchstleister wie von der Leyen und Kokott scheinbar gleichzeitig Akten lesen und Windeln wechseln können — ihre hohe Stress-Toleranz ist nicht jedem gegeben. Deshalb nennt Bertram die „Rushhour"-Kandidaten auch gerne die „überforderte Generation": „Sie muss in fünf Jahren all das leisten, wofür junge Erwachsene in den Siebziger- und Achtzigerjahren noch zehn Jahre Zeit hatten."

Schuld an dieser Entwicklung sei unter anderem der Arbeitsmarkt. Verlangte er früher vor allem nach Produktions-Facharbeitern, die schon mit Mitte 20 ihr höchstes Gehalt bekamen, sind inzwischen eher Akademiker gefragt. Sie steigen später in den Beruf ein, sind zu Beginn ihrer Karriere oftmals knapp bei Kasse und erreichen das obere Ende ihrer Verdienstskala erst jenseits des 55. Geburtstags. Und wer setzt schon Kinder in die Welt, wenn das Konto ständig in den Miesen ist? Die Wenigsten, sagt Bertram: „80 Prozent der Wissenschaftler zwischen 30 und 40 Jahren wünschen sich zum Beispiel Kinder, nur 20 Prozent gründen aber tatsächlich eine Familie."

Nirgendwo sonst haben berufliche Unsicherheit auf der einen und hochqualifizierende Ausbildungen auf der anderen Seite so drastische Auswirkungen auf den Verlauf des Lebens wie in Deutschland. Besonders gut lasse sich das an Geburtenstatistiken ablesen, erklärt Bertram: „Auf 1.000 Frauen unter 30 kommen bei uns nur 600 Kinder, in den USA sind es hingegen 1.400." Für deutsche Mittzwanzigerinnen kommt Karriere also vor Kind — und das so lange, bis biologische Gründe diese Hierarchie durcheinanderbringt.

Die Verantwortung trägt der Lebenszeitmonopolist

Die Folge: Mit Anfang bis Mitte 30 kommen zu den Überstunden im Job auf einmal jene in der heimischen Nachwuchsproduktion und -pflege hinzu. Kein Wunder, dass sich Paare dieser Altersklasse wesentlich gestresster fühlen als jüngere und ältere. Sie leiden deshalb nicht selten an körperlichen Symptonen wie Rückenschmerzen und Bluthochdruck oder müssen sich gar mit psychischen Folgen bis hin zur Depression und Angststörungen herumplagen. Natürlich ist das Gefühl akuter Überlastung von Mensch zu Mensch verschieden und damit rein subjektiv. Geht es nach Bertram macht das den „Rushhour"-Stress aber noch lange nicht zur reinen Privatsache. Der Soziologe macht klar: „Die Entzerrung dieser anstrengenden Zeit ist allein Staatsaufgabe!"

Schließlich habe er allein das Monopol auf die Lebenszeit — und damit als einziger die Möglichkeit, die klassische Dreiteilung aus Bildungs-, Arbeits- und Rentenzeit aufzuweichen. Vorbilder für besseres Zeitmanagement gibt es in Europa zuhauf. So können etwa niederländische Arbeitnehmer jederzeit eine berufliche Auszeit nehmen. Die Wochen, Monate oder Jahre, in denen sie sich fortbilden, sich um die Familie kümmern oder eine Weltreise machen, werden später einfach an die Erwerbstätigkeit hinten dran gehängt. „Es ist ja kein Naturgesetz, dass man mit 65 für immer aufhören muss, zu arbeiten", meint auch Bertram. Er plädiert dafür, die Arbeitswelt nicht nur zu reformieren, sondern auch zu individualisieren: „Wer kann was? Daran muss man sich in Zukunft orientieren. Ein älterer Polizist ist vielleicht nicht mehr bei Verfolungsjadgen einsetzbar, kann aber durchaus noch Strafzettel verteilen."

Die Ausfahrt aus der „Rushhour" ist möglich. Zumindest dann, wenn die Politik mehr Flexibilität ermöglicht, indem sie einen Teil der Rente früher auszahlt oder Um- und Weiterbildungen stärker fördert. Das käme letzten Endes nicht nur den gestressten Mittdreißigern zu Gute, sondern auch den gelangweilten Senioren: „Es ist doch wirklich Quatsch, das alles in der Lebensmitte passieren muss und in den letzten 30 Jahren geht man nur noch spazieren."