„Nicht hassen. Ich will nicht werden wie die“

Eine der Mordwaffe baugleiche Pistole vor den Porträts der Opfer (dpa)
Eine der Mordwaffe baugleiche Pistole vor den Porträts der Opfer (dpa)

Von Wiebke Ramm

Abdulkerim Şimşek ist 13 Jahre alt, als die Terroristen des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) seinem Vater Enver in den Kopf schießen. Der Teenager muss erleben, wie über Jahre acht weitere Männer türkischer und griechischer Herkunft ermordet werden. Immer mit derselben Waffe. Am Ende stirbt noch eine deutsche Polizistin. Die Ermittler schließen einen rechtsextremen Hintergrund beharrlich aus, belügen und verdächtigen die Opferfamilien. Enver Şimşeks Sohn wird 2012 trotzdem deutscher Staatsbürger. Ein bewusster Schritt. Ein Jahr nach dem Bekanntwerden des NSU. Davon erzählt er in einem beeindruckenden Buch, das an diesem Dienstag erscheint.

Exakt drei Jahre ist es her. Am 4. November 2011 erschießen sich Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in Eisenach. Stunden später steht in Zwickau ein Haus in Flammen. Vier Tage später stellt sich Beate Zschäpe der Polizei. Die Menschen beginnen zu begreifen, dass Neonazis jahrelang unentdeckt morden, Anschläge verüben und Banken ausrauben konnten. Mitten in Deutschland. Zu dem Schock über die grauenhafte Neonazi-Gewaltserie kommt das Erschrecken über das unfassbare Versagen der Sicherheitsbehörden.

Wenn die Familien der Opfer ihrer Heimat Deutschland heute noch eine Chance geben, dann ist dies auch Barbara Johns Verdienst. John kümmert sich seit Dezember 2011 als Ombudsfrau der Bundesregierung um die Opfer des NSU. Viele sind durch den Tod des Familienernährers, durch Traumata und falsche Verdächtigungen in existenzielle Not geraten. John hilft im Kleinen wie im Großen. Persönlich, pragmatisch, formularfrei. Nun hat sie ein Buch herausgegeben. „Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen“ heißt es. Darin erheben Familien und Freunde der NSU-Mordopfer und Überlebende der Sprengstoffanschläge gemeinsam ihre Stimme. Jeder von ihnen erzählt seine ganz persönliche Geschichte. Einige zum ersten Mal. John nennt das Buch ein „Dokument von anhaltender Trauer, jahrelanger Verletzung, finanziellem Ruin und verwundetem Heimatgefühl“. Zugleich aber ist es ein Dokument von beeindruckender Stärke und Größe.

Mustafa Turgut zum Beispiel. Der Bruder von Mehmet Turgut, dem Rostocker Mordopfer, ist für den NSU-Prozess extra aus der Türkei nach Deutschland gezogen. So oft es geht, verfolgt er in München die Gerichtsverhandlung. Im Buch schildert er, was der Verlust seines Bruders für ihn und seine Eltern bedeutet. Und in all der Trauer sagt der 22-Jährige etwas sehr, sehr Schönes. Er sagt: „Ich würde gern in Deutschland studieren. Ich kann mir sogar vorstellen, Staatsanwalt zu werden. Aber wenn, dann möchte ich unbedingt Staatsanwalt in Deutschland werden. Mir gefällt es, wie der Staatsanwalt und der Richter im Münchner Prozess mit den Menschen umgehen.“ Deutschland kann nur hoffen, dass seine Träume wahr werden. Denn je mehr Mustafas und Ayses bei Polizei und Staatsanwaltschaft sind, umso unwahrscheinlicher ist es wohl, dass noch einmal niemand nach rechts guckt.

Das Buch zeigt, welche immense Bedeutung der Gerichtsprozess in München für die Opfer hat – und wie sehr sie unter Zschäpes Schweigen und das ihrer Mitangeklagten leiden. „Diese Leute haben unsere Seelen zerstört und nun sitzen sie einfach da – grinsen, schweigen“, sagt Mustafa Turgut: „Nein. Es geht mir nicht gut, wenn ich sie vor mir sehe. Aber mit der Hoffnung, dass das Gericht zu einem guten Ergebnis kommt, kann ich den Anblick verkraften.“ Oder die junge Frau, die den Sprengstoffanschlag in der Kölner Probsteigasse knapp überlebt hat und anonym bleiben will. Sie schreibt: „Zehn Menschen ermorden, Dutzende schwer verletzen, und jetzt keine Rechenschaft ablegen? Keine Verantwortung übernehmen? Nur noch eins im Sinn haben: für diese übergroße Schuld den kleinstmöglichen Preis bezahlen, mit einer möglichst geringen Strafe davonkommen? Erbärmlich!“

Viel wichtiger noch als eine möglichst hohe Strafe für Zschäpe ist ihnen, dass sie die Wahrheit über die Hintergründe der Taten erfahren. „Ich will Aufklärung, nicht Beileid“, sagt Aysen Tasköprü, Schwester des Hamburger Mordopfers Süleyman Tasköprüs. Doch viele bezweifeln, dass mit den fünf Angeklagten im NSU-Prozess wirklich alle Beteiligten vor Gericht stehen.

In Richter Manfred Götzl aber haben sie alle großes Vertrauen. Dies ist nicht hoch genug zu bewerten. Der Staat hat ihre Familien nicht vor den Neonazis geschützt; Ermittler verunglimpfen die Opfer; Medien schreiben von „Dönermorden“. Dennoch schafft es der Richter, dass die Opfer ihm vertrauen. Mustafa Turgut schildert eine Begegnung. „Manchmal treffe ich den Richter zufällig in der Gerichtspause. Er grüßt mich freundlich, hält mir die Tür auf oder fragt mich: ,Warum sind Sie denn so dünn?` So etwas kann ich mir in der Türkei gar nicht vorstellen.“

Es sind beeindruckende Menschen, die sich in diesem Buch zu Wort melden. Sie tun es wütend, traurig, auch verzweifelt. Ihr Schmerz ist noch lange nicht überwunden. Aber aufgegeben haben sie nie. Es hätte den Neonazis einen nachträglichen Triumph beschert. „Denn genau das war ja das Ziel der Rechten: Hass schüren und die Menschen auseinanderbringen“, schreibt Tülin, Tochter von Abdurrahim Özüdoğru, dem zweiten Mordopfer. „Deshalb sage ich mir: Jetzt erst recht nicht! Nicht hassen. Ich will nicht werden wie die.“

Jetzt erst recht. Das ist auch der Gedanke von Abdulkerim Şimşek, als er 2012 zu seiner türkischen noch die deutsche Staatsbürgerschaft annimmt: „Ich habe mir gesagt: Nein, ich bin in Deutschland nicht fremd.“ Er sagt: „Ich gehöre hierher und keiner kriegt mich von hier weg.“


Barbara John (Hrsg.): „Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen“, Herder spektrum, 160 Seiten, 12,99 Euro