Skepsis nach Zeugensterben im NSU-Komplex

Bei der Toten soll es sich um eine Ex-Freundin von Florian H. handeln, einem ehemaligen Neonazi, der 2013 in einem Wagen in Stuttgart verbrannt war. (Foto: Andreas Rosar/Archiv)
Bei der Toten soll es sich um eine Ex-Freundin von Florian H. handeln, einem ehemaligen Neonazi, der 2013 in einem Wagen in Stuttgart verbrannt war. (Foto: Andreas Rosar/Archiv)

Nach dem Tod eines Zeugen im Mordfall Kiesewetter ist eine weitere Zeugin gestorben. An einer Lungenembolie, heißt es. Zweifel bleiben. Die Staatsanwaltschaft kündigt weitere Analysen an.

Von Wiebke Ramm

Der Mord an Polizistin Michèle Kiesewetter ist einer der rätselhaftesten Taten, die dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) zugerechnet werden. Am Sonnabend ist nun eine 20-jährige Frau gestorben, die Anfang März als Zeugin im NSU-Untersuchungsausschuss in Stuttgart ausgesagt hatte. Weil sie sich bedroht fühlte, war sie in nicht-öffentlichen Sitzung befragt worden. Ihr Tod ist der zweite im Kontext des Kiesewetter-Mordes. In beiden Fällen gibt es nach Erkenntnis der Ermittlungsbehörden keine Hinweise auf ein Tötungsdelikt. Die Frau aus Kraichtal im Kreis Karlsruhe starb an einer Lungenembolie infolge eines Motorradunfalls, teilten Polizei und Staatsanwaltschaft Karlsruhe am Montag mit. Weitere Analysen sollen folgen, um zu klären, ob die Frau womöglich doch vergiftet wurde.

Im September 2013 war bereits der Exfreund der Zeugin im Alter von 21 Jahren gestorben. Florian H. verbrannte in seinem Auto. Der frühere Neonazi hatte angegeben, Informationen zu den Hintergründen des Mordes zu haben. H. soll sich nach Angaben der Ermittlungsbehörden selbst getötet haben. Seine Familie glaubt das nicht. Nun ist auch seine Exfreundin tot.

Erneute Untersuchung der Leiche?

„Dass eine 20-Jährige an Lungenembolie stirbt, ist außerordentlich ungewöhnlich“, sagt der Berliner Extremismusexperte und emeritierte Politikprofessor Hajo Funke. Funke verfolgt als Vertrauensperson der Familie von Florian H. den NSU-Ausschuss des Stuttgarter Landtages. Er fordert eine zweite Untersuchung der Leiche.

„Leider sind wir mittlerweile so weit sagen zu müssen, alles ist möglich, nichts ist ausgeschlossen“, sagt Anwalt Mehmet Daimagüler. Er vertritt im NSU-Prozess in München die Familien von zwei Mordopfern. „Die Sicherheitskreise selbst haben das Vertrauen in den Verfassungsschutz und die Ermittlungsbehörden so erschüttert, wie es der NSU niemals gekonnt hätte“, sagt der Opferanwalt. „Von der Polizei erwarte ich Aufklärungsarbeit, die diesen Namen verdient, keine 08/15-Maßnahmen, keine Placebos. Sie muss umfassend und transparent alle Möglichkeiten, die zum Tod der jungen Frau geführt haben könnten, untersuchen."

Krampfanfall nach Unfall

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft ist die junge Frau am vergangenen Dienstag beim Motocross-Training gestürzt. Dabei habe sie sich das Knie geprellt. Sie sei in ärztlicher Behandlung gewesen. Am Sonnabend fand ihr Lebensgefährte sie mit einem Krampfanfall in ihrer Wohnung. Sie starb wenig später im Krankenhaus. Die Rechtsmediziner gehen davon aus, dass sich ein Blutgerinnsel aus dem Knie gelöst und zu einer Verstopfung eines Blutgefäßes der Lunge geführt habe. „Anzeichen für eine wie auch immer geartete Fremdeinwirkung haben sich bei der Obduktion nicht ergeben“, teilen die Ermittler mit.

Ihr Exfreund, Florian H., war 2012 vom Bundeskriminalamt (BKA) vernommen worden. Florian H. soll gegenüber zwei Mädchen gesagt haben, er wisse, wer Kiesewetter 2007 in Heilbronn ermordet habe. Dem BKA sagte H. jedoch, dass er die Mörder nicht kenne. An dem Tag, als das Landeskriminalamt ihn erneut befragen wollte, starb er in seinem Auto. Dem BKA hatte Florian H. auch gesagt, dass es im Februar 2010 ein Treffen zwischen dem NSU und einer „Neoschutzstaffel“, kurz NSS, gegeben habe. NSS? Niemand hatte zuvor von einer solchen Gruppe gehört. H. soll sie als die radikalsten Neonazigruppen Deutschlands bezeichnet haben. Hat eine „Neoschutzstaffel“ den NSU bei dem Mord in Heilbronn unterstützt?

„Wir sollten nicht glauben, dass wir die Wahrheit schon kennen“, sagt Anwalt Daimagüler. „Wir müssen alle Optionen als möglich annehmen und allen Hinweisen nachgehen.“ Extremismusexperte Funke hat keine Zweifel an der Existenz der NSS. Er sagt: „Die NSS hat es gegeben, auch wenn wir noch nicht wissen, wer alles dazugehört hat.“

Suche nach möglichen Mittätern

Der NSU bekennt sich in seinem Video selbst zum Mord an Kiesewetter. Bei den NSU-Terroristen fanden sich Dienstwaffe und Handschellen der Polizistin. Doch die Tat passt nicht zu den anderen neun Morden des NSU. Kiesewetter hatte keinen Migrationshintergrund, im Gegensatz zu allen anderen Morden kam bei der Tat auch nicht die Ceska-Pistole zum Einsatz. Dann gibt es noch Kiesewetters Einsatzleiter, der einst Mitglied im rassistischen Ku-Klux-Klan war.

Es gebe „begründete Zweifel“ an den Ergebnissen, die die Bundesanwaltschaft in ihrer Anklageschrift im NSU-Prozess präsentiert, sagt Funke. Die Anklage geht davon aus, dass allein Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos für den Tod der Polizistin verantwortlich sind. „Nichts ist geklärt“, sagt hingegen Funke. „Wir wissen nicht, wer die Mittäter sind.“ Funke wirft dem baden-württembergischen Innenminister Reinhold Gall (SPD) vor, eine systematische Aufklärung nicht entschlossen genug voranzutreiben: „Das Mafia-ähnliche Agieren der Neonaziszene in Baden-Württemberg ist nicht aufgeklärt. Da ist Gefahr in Verzug.“ Auch Selbstkritik der Ermittlungsbehörden sei dringend notwendig, um Vertrauen zurückzugewinnen.