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Auschwitz-Prozess: Besser spät als nie


Am Dienstag beginnt der Prozess gegen den früheren SS-Mann Oskar Gröning. Der heute 93-Jährige war Buchhalter in Auschwitz. Nun muss er sich wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen vor Gericht verantworten. Endlich.

Von Wiebke Ramm

Als die Juden mit dem Zug nach Auschwitz gebracht wurden, stand Oskar Gröning an der Rampe. Als Angehöriger der Waffen-SS wachte er darüber, dass die Kinder, Frauen und Männer ihr Gepäck abgaben. Er sorgte auch dafür, dass die Koffer und Taschen beiseitegeschafft wurden, um Platz für das Gepäck der nächsten zu schaffen. Und während andere SS-Männer die ahnungslosen Menschen in die Gaskammern führten, sortierte und zählte er das Geld der Opfer. Oskar Gröning war so etwas wie der Buchhalter im Konzentrationslager Auschwitz, in dem die SS Millionen Menschen ermordete. Von Dienstag an muss er sich wegen Beihilfe zum Mord vor dem Landgericht Lüneburg verantworten. Er ist heute 93 Jahre alt.

Die falsche Frage ist: Soll man einem 93-Jährigen wirklich noch den Prozess machen? Wird der Mord an einem Kind erst nach Jahren, vielleicht nach Jahrzehnten aufgeklärt, fragt auch niemand, ob es den Prozess gegen den Kindesmörder überhaupt noch geben muss. Mord verjährt nicht. Beihilfe zum Mord auch nicht. In Grönings Fall geht es um mindestens 300.000 ermordete Menschen.

Warum erst jetzt?

Die Frage ist vielmehr: Warum gibt es diesen Prozess erst jetzt? 70 Jahre nach Kriegsende? Die Staatsanwaltschaft begründet das mit einem wegweisenden Urteil aus dem Jahr 2011. Das Landgericht München hat vor vier Jahren den ehemaligen KZ-Wächter des Lagers Sabibor, John Demjanjuk, wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 28 000 Menschen schuldig gesprochen. Den Richtern reichte die Feststellung, dass Demjanjuk in einem Vernichtungslager aktiv war. Das Gericht verzichtete auf den Nachweis einer konkreten Tatbeteiligung, was eine Verurteilung sehr erschwert hätte. Das Urteil gilt als Wende in der Rechtsprechung. Warum diese Wende nicht eher stattfand, erklärt das nicht.

Dabei vertrat der große Frankfurter Staatsanwalt Fritz Bauer bereits in den sechziger Jahren die Auffassung, dass sich jeder schuldig gemacht hat, der in Auschwitz Dienst tat. Schon in den Sechzigern wurden in einem Auschwitz-Prozess SS-Männer wegen Beihilfe zum Mord verurteilt. Und schon damals fragte ein Staatsanwalt in seinem Plädoyer, warum ein derartiger Prozess erst jetzt stattfinde. Eine Frage, die heute, 50 Jahre später, umso dringlicher ist.

Mittlerweile sind fast alle Täter tot und die meisten, die übrig gebliebenen sind, so alt, dass sie sich aufgrund von Demenz und anderer Gebrechen nicht mehr vor Gericht verantworten müssen. Übrig bleibt Oskar Gröning, der Buchhalter von Auschwitz.

Teil der Tötungsmaschinerie

Ist das gerecht? Einen alten Mann, der wohl nie eigenhändig mordete, vor Gericht zu zerren? Was ist mit dem Lokführer, der die Menschen in den Tod nach Auschwitz fuhr? Was mit dem Koch, der für das leibliche Wohl der SS-Männer sorgte? Was mit dem Arzt, der die KZ-Wächter gesund pflegte? Soll gegen all diese Leute jetzt etwa auch ermittelt werden? Die Antwort darauf ist einfach: Ja.

Der Lokführer, der Koch, der Arzt, sie alle halfen bei dem pervers planvollen Massenmorden in Auschwitz. Sie waren für das reibungslose Töten genauso nötig, wie diejenigen, die am Schreibtisch diesen grauenhaften Plan überhaupt erst entworfen haben. Sie alle waren Teil der Tötungsmaschinerie.

Oskar Gröning, der frühere SS-Mann, hat später ein ordentliches Leben geführt. Der ehemalige Buchhalter von Auschwitz hat im Nachkriegsdeutschland als Personalleiter Karriere gemacht und war zwölf Jahre lang ehrenamtlicher Richter am Arbeitsgericht Nienburg. Gröning hat den Holocaust nie geleugnet, sondern noch versucht, Holocaustleugnern ihren Irrsinn auszutreiben, in dem er ihnen berichtete, was er mit eigenen Augen gesehen hat. Sein wohl tadelloses Leben jenseits der NS-Zeit wird sich im Falle einer Verurteilung mildernd auf das Strafmaß auswirken. Unnötig oder überflüssig aber macht es den Prozess gegen ihn nicht.

Die deutsche Justiz hat die NS-Vergangenheit viel zu lange ruhen lassen. Dass sie erst jetzt versucht, die letzten lebenden Täter zur Verantwortung zu ziehen, ist skandalös, richtig bleibt es trotzdem. Besser spät als nie.

Unfassbar grausame Verbrechen Deutschlands

Rund 60 Holocaust-Überlebende und Angehörige der Opfer werden am Prozess als Nebenkläger teilnehmen. Vor allem ihre Aussagen, aber auch die Dokumente, die Fotos und all die Worte vor Gericht werden die unfassbar grausamen Verbrechen Deutschlands uns und der Welt noch einmal eindringlich vor Augen führen. Und das ist gut so. In einer Zeit, in der Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte verübt werden, Menschen auf die Straße gehen, um ihrer dummen Feindseligkeit gegen Menschen anderer Herkunft auszudrücken, und in der nicht zuletzt der NSU-Prozess zeigt, dass die Neonaziszene in Deutschland erschreckend groß und gewaltbereit ist, sollten wir uns einmal wieder in aller unerträglichen Deutlichkeit an unsere Geschichte erinnern.

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