"Wir Deutsche haben kein Herz"

Syrisches Flüchtlingskind in Beirut vor dem Abflug nach Deutschland:

Ein Kommentar von Jan Rübel

Ich gestehe, ich habe ein Problem. Es fühlt sich an wie ein Geisterfahrer, der seinen Irrtum bemerkt: Alle sind auf der Gegenfahrbahn. Oder sind die anderen die Geisterfahrer?

Der Schriftsteller Günter Grass hat einen Vorschlag gemacht. Sollte es Notfälle bei der Unterbringung von Flüchtlingen in Deutschland geben, halte er auch „Zwangseinquartierungen“ für eine Option. Und erinnert an die 14 Millionen Deutschen und Deutschstämmigen aus dem Osten, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Osten flüchtend so in Deutschland aufgenommen wurden.

Meine Familie flüchtete aus Ostpreußen, sie wurde bei einer Familie in Ostfriesland zwangseinquartiert, und ich, 1970 geboren, fühle mich als Ostfriese. Es gab damals Anfeindungen und Diskriminierungen, man hatte mir davon erzählt, aber der Neustart in der neuen Heimat gelang. Deshalb finde ich den Vorschlag von Grass bedenkenswert. Die Reaktionen in den Sozialen Medien auf sein Gedankenspiel indes fallen eindeutig aus. Der Literaturnobelpreisträger steht allein auf weiter Flur – wie ein Geisterfahrer.

Platz und Geld hätten wir ja

Da sind zunächst die wenig originellen Stimmen. Ihr Tenor: Soll er doch selbst...
So zum Beispiel Johannes Singhammer, der CSU-Politiker ist Vize-Präsident des Bundestages, immerhin. Er schreibt auf „Twitter“: „Bevor Günter Grass die Zwangseinweisung von Asylbewerbern in Privatwohnungen verlangt, sollte er die Türen seines Heims weit öffnen.“ Ins gleiche Horn stößt Ulf Poschardt, der Vize-Chefredakteur der WELT-Gruppe von der Axel Springer AG twittert: „Ich bin sicher, der Großdichter geht mit gutem Beispiel voran.“

 

Johannes Singhammer auf Twitter
Johannes Singhammer auf Twitter
Ulf Poschardt auf Twitter
Ulf Poschardt auf Twitter

Auf dem zweiten Blick sind das schwache Argumente, denn sie gehen auf die Überlegung gar nicht ein. Hat Grass je behauptet, sich gegen eine Zwangseinquartierung von Flüchtlingen in seinem Haus in einem Dorf in der Nähe von Lübeck zu wehren? Doch das Netz ist, neben diesen beiden halbprominenten Stimmen, voll mit dem Tenor frei nach dem Sankt-Florians-Prinzip: „Heiliger Sankt Florian / Verschon' mein Haus / Zünd' and're an!“

Und nun einmal zu den harten Fakten. In Deutschland leben derzeit 200.000 Flüchtlinge. Es werden sicherlich mehr werden, da mag sich Europa noch so abschotten. Und Grass sprach von „Notfällen“. Schieben wir dieses Wort beiseite und stellen uns einmal vor, jeder Flüchtling käme in Deutschland nicht in ein Heim, sondern in eine Privatwohnung. Wie sähe die aus? Laut dem Welt-Wohlstandsbericht der Unternehmensberatung Cap Gemini und der Royal Bank of Canada leben in Deutschland 1,1 Millionen Menschen, die mindestens eine Million Dollar in bar, im Wertpapierdepot oder in nicht selbst genutzten Immobilien besitzen. Da wird ja wohl die eine oder andere Wohnung etwas Platz haben, ein, zwei Zimmer vielleicht?

Wir haben in Deutschland das Geld. Wir haben in Deutschland den Platz. Wir haben aber nicht das Herz. Die Gründe dafür werden im Netz durchaus genannt:

„Damals wurden Deutsche bei Deutschen untergebracht. Selbe Denkweise und selbe Weitsicht (Weltsicht? Die Red.), schreibt „Karsten Kress“ auf „Facebook. „Das kann ich noch verstehen. Nach dem Krieg musste das Land zusammenhalten. Aber diese Flüchtlinge haben nix mit unserem Land gemein und wollen auch nix von uns außer unser Geld. Das passt nicht.“ Tja, DIESE Flüchtlinge. Zugegeben, eine Einzelmeinung. Aber die Einteilung in WIR und IHR hört man doch oft, nicht wahr? In Deutschland lebende „Ausländer“ werden, wenn man sie fragt, bereitwillig Auskunft darüber geben, wie oft man sie daran erinnert, dass sie keinen deutschen Pass in der Tasche herumtragen. Wir lieben es anderen zu sagen, dass sie nicht dazu gehören. Nicht zur Weltmeisterelf von 2014, nicht zum Bundeshaushalt mit der schwarzen Null, nicht zur Kultur des Anschweigens und der etwas mangelhaft ausfallenden Empathie.

 

Karsten Kress auf Facebook
Karsten Kress auf Facebook

Jetzt beginnen wieder diese Kamellen mit Josef und Maria

Grass ist also voll auf der Gegenfahrbahn. Hat man ihn erst dort verortet, eben nicht mehr HIER, sondern WOANDERS, kann man ihm auch gleich anderes anhängen. „Nele Tabler“ zum Beispiel twittert, „Behaupten, das Gegenteil zu wollen, aber in Wirklichkeit mit dem Wort Zwangseinquartierung Stimmung gegen Flüchtlinge machen“. Grass ist also verantwortlich für Fremdenfeindlichkeit, weil er sie hervor provoziert? Nach dieser Logik macht man den Gärtner zum Bock. Und „Nele Tabler“ offenbart, was sie uns Deutschen so alles zutraut.

 

Nele Tabler auf Twitter
Nele Tabler auf Twitter

Andere lieben es in ihren Reaktionen deftiger. „Tobi-Klartext“ zum Beispiel twittert, den WM-Pokal vor der Deutschlandfahne als Logo: „Zwangseinquartierung wäre bei Günter Grass auch mal eine Idee. Am besten im Altersheim ohne Mikro. Trottel.“

 

Tobi Klartext auf Twitter
Tobi Klartext auf Twitter

Und natürlich darf die dann allseits erwartete Politikerschelte nicht fehlen. „Grass scheint mir nicht das Problem zu sein, sondern unsere völlig der Realität entrückten ‚Volksvertreter’, denen ich inzwischen jede Torheit zutraue!“, twittert „Ulrich Kretschmer“.

 

Ulrich Kretschmer auf Facebook
Ulrich Kretschmer auf Facebook

Oder „Frank Emser“ mit Blick auf die Aufnahmekapazitäten: „Lasst uns bei den Bundespolitikern anfangen. Danach sollten die Landtagspolitiker mit gutem Beispiel vorangehen...“

 

Frank Emser auf Facebook
Frank Emser auf Facebook

Das wäre das Sprichwort: einfach mal mit gutem Beispiel vorangehen. Der Papst prangert vorm EU-Parlament die Abschottung Europas an, in den Adventsgottesdiensten werden die Predigten voll sein mit Flüchtlingen namens Josef und Maria, und wir werden wieder herrlich in Stimmung kommen. Ein gutes Beispiel wäre: Runde Tische in den Kommunen einberufen, damit sich Privatbürger einbringen können beim Willkommenheißen von Flüchtlingen – wie auch immer. Aber noch immer gibt Europa mehr Geld dafür aus, damit Flüchtlinge nicht kommen – in Mauern, Zäune, Patrouillen und Gefängnisse. Mehr Geld als die Aufwendungen, sie hier aufzunehmen. Vielleicht sollten wir dieses Jahr Weihnachten ausfallen lassen. Es steht uns nicht so gut. Das zeigt die jüngste Kontroverse um Grass.