Merkels Schicksalstag

Merkel muss heute mit Engelszungen reden. (Bild: dpa)

Heute beraten die Länderchefs der EU über ihre Flüchtlingspolitik. Große Ergebnisse sind nicht zu erwarten. Aber für Angela Merkel ist es einer der wichtigsten Tage überhaupt. Er könnte den Anfang von ihrem politischen Ende markieren.

Eine Analyse von Jan Rübel

Nun ist ihr Name mit dem Thema verknüpft. Das wird sie nicht mehr los. Die ersten drei Buchstaben gehören noch anderen: Wer „mer“ googelt, erhält in der Suchmaske zuerst „mercedes“ – doch ab „merk“ hat dann Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bei der Suchmaschine die Nase vorn. Nur, mit welchen Wörtern wird ihr Name erscheinen? Google entscheidet sich zuerst für „kritik“, dann „rücktritt“ und schließlich „flüchtlinge“; „griechenland“ erscheint weit abgeschlagen.

Flüchtlinge und der Umgang mit ihnen wird nicht nur zum Schlüsselthema für Merkels Politik der kommenden Jahre. Sie wird ihr politisches Schicksal daran knüpfen, ob ihre Flüchtlingspolitik scheitern oder eine Erfolgsstory wird. Das weiß sie. Und daher ist der heutige EU-Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs eine Wegmarke. Heute wird sich entscheiden, ob Merkel auch bei der Flüchtlingspolitik in der EU den Ton angibt – wie bei der Griechenlandkrise – , oder ob sie heute ihren Stempel verliert und damit in eine unsichere Zukunft schiffern wird.

Offiziell soll heute wenig beschlossen werden. Es gehe um die Sicherung der EU-Außengrenzen, sickert durch. Geschenkt. Entscheidend aber wird die Frage, wie die EU mit den Flüchtlingen innerhalb ihrer Grenzen umgehen wird. Die gestrige EU-Innenministerkonferenz endete mit einem kleinen Eklat. Vier Länder wurden beim Entschluss, 120.000 Flüchtlinge auf die EU-Länder zu verteilen, überstimmt. Die Einigkeit ist futsch. Der Regierungschefs eines der unterlegenen Länder, Slowakeis Robert Fico, kündigte sofort an, sich an dieses „Diktat“ nicht zu halten. Schöne Aussichten also für den Gipfel heute.

Über den heutigen Gipfel redet kaum jemand

Auch in den Medien wird das Spitzentreffen der Länderchefs eher beschwiegen. Alle scheinen satt zu sein beim Thema „Flüchtlinge“. Also kauen die Berichterstatter noch an der gestrigen Innenministerkonferenz. Dabei ist der heutige Tag viel wichtiger. Denn heute geht es darum, eine Haltung zur Flüchtlingsfrage zu entwickeln. Letztlich muss die EU die Frage beantworten: Geht sie den offensiven Weg einer echt gemeinten Willkommens- und Integrationskultur, oder haut sie die Schlagbäume runter und behandelt Flüchtlingspolitik wie den ungeliebten Schwager, der stets am Kindertisch Platz nehmen muss?

Merkel wird sich für den ersten Weg stark machen. Doch dabei muss sie so beharrlich wie behutsam vorgehen. Eine gemeinsame EU-Asylpolitik gelingt nur, wenn alle Mitgliedsstaaten davon überzeugt werden. Und Fakt ist, dass viele osteuropäische Staaten von rechtspopulistischen Koalitionen regiert werden. Das kann sich bei den kommenden Wahlen rasch ändern. Muss aber nicht. Politik ist die Gestaltung des Machbaren, und die EU muss sich in einer Zeit zusammenraufen, in der es an ihrer Ostflanke scheppert und rumort: Zwar ist die Ära der Kriege wie der auf dem Balkan in den Neunzigern vorbei und wird so schnell nicht wiederkommen. Aber viele osteuropäische Staaten sind miteinander verzankt wie seit langem nicht, sie setzen auf die nationalistische Karte. Nationalisten sind immer Egoisten. Einig sind sie sich nur in ihrer Kritik an der angeblich unfähigen EU, die ihnen reinreden will; die Kritik ist wohlfeil, mit ihr umgehen müssen Merkel & Co. aber dennoch.

Denn mit Druck wird man die eher jungen EU-Mitglieder aus dem Osten nicht für sich gewinnen. Ihnen muss die Angst genommen werden, Hoffnung gegeben werden. Merkel muss heute mit Engelszungen reden. Sie wird viel zuhören müssen und dennoch aufzeigen, dass die Forderung nach einer Ablehnungspolitik gegenüber Flüchtlingen die EU in eine Sackgasse führt. Nur mit Geduld kann sie dumpfe Überzeugungen ändern – gemäß des legendären chinesischen Philosophen Laotse, der vor 2500 Jahren gesagt haben soll: „Dass das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit den harten Stein besiegt.“

Welcher Wind wird wehen?

Doch dafür muss heute eine Richtungsentscheidung her. Kein förmlicher Beschluss. Wohl aber muss durchsickern, dass die EU-Staaten gemeinsam handeln wollen. Dass sie darüber nachdenken, aus der Herausforderung durch die Flüchtlinge eine Chance zu machen. Und dass Abschottung keine wirklich überzeugende Lösung darstellt.

Wird am Ende dieses Tages nicht diese Botschaft nach draußen dringen, hat Merkel ein Problem. Dann könnte dieser Tag der Anfang von ihrem politischen Ende sein. Dann könnte ihr das Heft aus den Händen fallen. Und sie müsste zusehen, wie man jedes Pech ihr anzukleben versuchte. CSU-Chef Horst Seehofer jedenfalls, der wie sie nur nach Umfragewerten regiert, wäre der erste, der seine Hand gegen sie erhöbe.