Syrien ist überall

Russischer Luftschlag in Syrien (Bild: dpa)
Russischer Luftschlag in Syrien (Bild: dpa)


Spannungen zwischen Russland und der Türkei, ein hämisch lachender „Islamischer Staat“ (IS) und Kämpfe ohne Ende – der Konflikt in Syrien springt über die Grenzen. Ein dritter Weltkrieg wird daraus aber nicht.


Eine Analyse von Jan Rübel

Twitter ist eine mächtige Arterie in der virtuellen Welt, in ihr pulsiert es oft am schnellsten, und so manches Geschehen wird dort zuerst für alle sichtbar. Auf Twitter ist die Sache klar: Der Dritte Weltkrieg steht vor der Tür. Hashtags rund um „world war III“ füllen sich mit Tweets aus allen Kontinenten, weil: Die Angst, dass der Bürgerkrieg in Syrien ausufert, auf andere Regionen überspringt und einen Flächenbrand bis hin zu einem Weltkrieg auslöst, nimmt zu. Syrien, das merken nicht nur die Deutschen wegen der Warteschlangen von Flüchtlingen vor Erstaufnahmeeinrichtungen, ist überall.

Doch die Pferde sind etwas scheu. Zum einen stimmt: Gerade Deutschland hat seit Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien im Jahr 2011 die Augen verschlossen und gemeint, mit all dem Leid nichts zu tun zu haben. Das war verantwortungs- und ahnungslos zugleich. Denn in der globalisierten Welt machen Konflikte vor Schlagbäumen kaum noch halt. Zum anderen stimmt auch: Die Liste der nicht vorhergesehenen Kriege ist lang. Sprechen die Waffen plötzlich in einer anderen Qualität so wie jüngst beim Abschuss eines russischen Jagdbombers durch die türkische Luftwaffe im syrischen Grenzgebiet, dann drängt sich der Doppelpunkt auf: Was nun? Kriege entfesseln sich schneller als gedacht, und oft steckt nicht strategisches Kalkül dahinter, sondern bloßes Missverständnis. In Syrien gibt es viele Akteure, inländische und ausländische. Und es gibt viele Missverständnisse. Wie hoch ist das Risiko eines größeren Krieges also wirklich? Ein Überblick über die überregionalen Protagonisten und ihre Interessen:

Russland: Der Kreml betreibt eine Politik der Machtexpansion. Starker militärischer Auftritt sichert nach innen ab und kaschiert eigene Schwächen – das ist die Devise von Präsident Wladimir Putin. Das Regime von Restsyriens Diktator Baschar al-Assad ist der einzige enge Verbündete Russlands in der östlichen Mittelmeerregion. Und in der Hafenstadt Tartus sind russische Militärs seit Jahrzehnten stationiert. Dies gilt es abzusichern. Also stützt Putin Assad, das Regime soll nicht fallen. Diesem Ziel ordnet Putin alles unter, auch die Bekämpfung der Terrorgruppe IS. Assad selbst ist Putin nicht wichtig, auch mit anderen kooperationswilligen Offizieren aus den syrischen Streitkräften ließe sich agieren.

Türkei: Präsident Recep Tayyip Erdogan sieht sich als neuer Sultan. Putin ähnlich, denkt er Politik in Kriterien der Macht. Und Macht ergreift man in seinen Augen. Erdogan will in Syrien mitreden. Einerseits will er die dortigen Kurden kleinhalten, damit Separationsideen nicht auf die Türkei mit ihren Kurden (18 Prozent der Bevölkerung) überspringen. Andererseits sieht er sich als Patron turkmenischer Bevölkerungsgruppen in Syrien – ein wichtiger Grund für den Abschuss des russischen Bombers; der flog nämlich nicht gegen Stellungen des IS, sondern gegen jene der Turkmenen.

Saudi-Arabien: Das Regime von Riad hat eine Paranoia. Überall sehen die Scheichs Schiiten am Werk, die ihre Machtstellung untergraben. Und der Iran als größter schiitischer Player ist ihnen ärgster Rivale. Die saudischen Machthaber denken hauptsächlich in Kategorien der Gewalt. In Syrien wollen sie alles nicht-sunnitische schwächen, der IS ist ihnen kein natürlicher Feind. Dass Saudi-Arabien freundschaftliche Beziehungen zu Amerika und Europa unterhält, kompliziert die Angelegenheit.

Iran: Teheran leidet nicht unter ähnlichem Verfolgungswahn wie die Saudis. Aber seit Jahrzehnten gibt es zwischen beiden Ländern einen Wettstreit, wer die stärker dominierende Kraft in der Region ist. Iran ist noch vor Russland der wichtigste Verbündete Assads. Ohne iranische Militärberater und viele schiitische Milizen aus dem Libanon und dem Irak wäre Assad wohl schon untergegangen.

USA und Europa: Präsident Barack Obama hat kein Konzept für Syrien. Um als angebliche Weltmacht vor der Öffentlichkeit nicht vollends den Kotau zu machen, formuliert das Weiße Haus den IS als einzigen Gegner und geht gegen ihn mit Luftangriffen vor. Die europäischen Staaten agieren nicht anders.

Was all diese Akteure eint: Eine echte Friedenslösung suchen sie nicht. Auch die Aufrechterhaltung des Status quo, also ein Bürgerkrieg ohne Ende, erscheint ihnen nicht als Gräuel. Das ist schlecht für die Syrer. Aber es spricht gegen eine Eskalierung über die syrischen Grenzen hinaus. Letztendlich nehmen all diese Regionalmächte eine Spaltung Syriens vorweg: Schon jetzt bomben Amerikaner in Gegenden, in denen Russland nicht agiert und der Kreml konzentriert sich auf die Rebellen gegen Assad – und nicht auf den IS.

Besorgniserregend ist, dass immer mehr und schlimmere Waffen in die Region sickern. Nun will Russland eines der besten Flugabwehrsysteme weltweit in Syrien installieren, was im gefahrvollsten Fall auf eine Flugverbotszone für nicht-russische Flugzeuge hinauslaufen würde – vorausgesetzt, Putin strebt eine Monopolstellung an. Russland und auch Iran aber suchen zumindest Anschluss an die Weltgemeinschaft, eine komplette Isolation wäre für diese beiden Regierungen kontraproduktiv, da sie, auf sich allein gestellt, so mächtig nicht sind.

Bei so vielen Akteuren ist es im Grunde unvermeidbar, dass Zwischenfälle passieren wie der jüngste zwischen Russland und der Türkei. Gegenseitige Absprachen fehlen, die überregionalen Akteure passen sich dem Chaos des innersyrischen Krieges an und verstärken es. Kommt es also künftig zu bewaffneten Konflikten zwischen diesen großen Playern, werden es einzelne Episoden bleiben. Keiner hat ein Interesse an einem Ausufern – bis auf den IS.

Der läuft derzeit mit einem einzigen Stinkefinger durchs Weltgeschehen und profitiert von der Uneinigkeit seiner zahlreichen Gegner. Und er versucht stets, sich größer zu machen, als er ist. Es wird also in Amerika, in Europa und in Russland weiterhin Terrorgefahr geben. Der größte Coup des IS wäre ein Anschlag riesigen Ausmaßes, bis hin zum Einsatz biologischen, chemischen oder atomaren Materials. Aber auch bei solch einem GAU bliebe die Frage: Wer sollte gegen wen kämpfen? Der Weltkrieg wird wohl bei Twitter bleiben.

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